293    DER KUSS

Liebe Küssende,

wer die „News of the World“ einigermaßen verfolgt, hat bestimmt (so wie der Zinkl) mitbekommen, dass der spanische Fußballfunktionär Luis Rubiales einen Kuss abgegeben hat. Das wäre nicht der Rede wert — wenn dieser Kuss nicht der spanischen Fußballnationalspielerin Jennifer Hermoso (höchstwahrscheinlich unfreiwillig) aufgedrückt worden wäre. Als ich diese Nachricht hörte und noch keinen filmischen Beleg dazu gesehen hatte, dachte ich zuerst an einen ausschweifenden Zungenkuss, so wie es sich gehört. Aber als mir dann ganz exklusiv das animierte Dokument dieses spektakulären Vorfalls zugespielt worden ist, war ich doch etwas enttäuscht, da dieser Kuss ja nur eine halbe Sekunde gedauert haben dürfte.

Wie auch immer, ich bin der Letzte, der hier schreiben wird: „Ach, was soll dieses Gewese um so eine kurze Berührung im Gesicht zweier Menschen“. Mitnichten. Denn dass dieser Gockel Rubiales ein besonderes Selbstverständnis seiner großartigen Männlichkeit hat, zeigt ja auch eine (ebenfalls gefilmte) Szene, in welcher er sich während des Fußballspiels in großer Begeisterung machtvoll in den Schritt greift, womit er wahrscheinlich darstellen will: „Schaut her, wir (bzw. ICH) habe/n den größen Schwanz hier!“ Dass es die spanischen Damen waren, die den Sieg errungen haben, ist für ihn da wohl eher Nebensache — Rubiales kann die Angelegenheit ja nur aus seiner prunkvollen männlichen Perspektive erleben und fühlen. Ein Sieg ist für ihn eine erfolgreich ausgeführte Kopulation. Das hat damit zu tun, dass die männlichen Gene unentwegt schreien: Pflanze dich fort!

Was ich nun aber mindestens ebenso bemerkenswert finde, ist die Tatsache, dass sich die Mutter von Herrn Rubiales in eine Kirche eingesperrt hat, um dort mit einem Hungerstreik dagegen zu protestieren, wie hart man mit ihrem Sohn inzwischen ins Gericht geht. Um der Aktion noch mehr Wirkung zu verleihen, hat sich auch die Tante von Rubiales dazugesellt. Zu zweit hungert es sich dann doch unterhaltsamer.

Inzwischen behauptet Herr Rubiales, der Kuss sei einvernehmlich geschehen und erwägt rechtliche Schritte gegen Frau Hermoso, die tatsächlich zu behaupten wagt, sie wäre auf diesen erotischen Eingriff nicht vorbereitet gewesen. Da fragt sich der Zinkl, wie ein diesbezügliches Einvernehmen aussehen könnte, bei einem Kuss in dieser Geschwindigkeit. Haben sich die beiden kurz davor tief in die Augen geblickt und Jennifer hat bejahend genickt, so nach dem Motto: „Luis, mein Gebieter, DU darfst das, denn du hast hier den größten Schwanz im Stadion.“

Draußen, in meinem Münchner Hinterhof, gibt es seit Tagen öden Nieselregen, es nieselt und nieselt. Im Allgäu hat es in diesem August bereits drastisch gehagelt, nachdem die Sonne ein paar Tage vorher den Leuten die Flüssigkeit aus den Hirnen gebrannt hat. Die Sonne, die gelbe Sau (Zitat Peter Licht). In Kanada brennen Gebiete ab, so groß wie deutsche Bundesländer. Aber mindestens genauso von Bedeutung ist diese Kuss-Äffäre und deren Auswirkungen. Ja genau, in diesen 20er Jahren des dritten Jahrtausends beherrscht der grelle Wahnsinn die Bühne.

Viele Deutsche sorgen sich darum, dass wir in einer ähnlichen Zeit leben wie in der Weimarer Republik vor hundert Jahren, als das Nazipack ganz langsam aus verfaulten Wurmlöchern kroch, um sich mächtig auszubreiten mit großen Schwänzen und mit noch größeren Gewaltfantasien. Um Deutschland in ein Reich des Todes zu verwandeln. Die AfD ist schon dabei, eine Wiederholung der Geschehnisse zu planen. Schritt für Schritt kleine und dann immer etwas größere Niedertracht zu säen und in hässliche Taten umzusetzen. Kreaturen wie Aiwanger werden sich zu gegebener Zeit eingliedern, um in besonders grausamer Weise zu agieren. Ist das vorstellbar? Ich denke, das ist es.

Ich glaube nicht, dass es soweit kommen wird. Zumindest hoffe ich es inständig. Was hat das alles mit dem spanischen Kuss zu tun? Es geht um Macht! Immerzu. Um männliche Macht, um die Darstellung männlicher Macht, selbstverständlich auch um sexuelle Macht. Und natürlich bleibt es nie nur bei der Darstellung. Warum hebt der Hund beim Pinkeln das Bein? Weil er es kann. Rubiales dachte — zumindest in seinem Unterbewusstsein — auch, dass er es kann. Dass seine Mama auf seiner Seite ist, ist verständlich. Dass sie dabei aber so dermaßen durchdreht, ist ein erstaunlicher Beweis weiblicher Leidenschaft und unbeirrbarer Mutterliebe zu einem leicht missratenen Sohn — man könnte aus der Geschichte ein wunderbares dramatisches Theaterstück destillieren.

Draußen immer noch Nieselregen. Es nieselt und nieselt …