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Liebe Leser,

mich beschäftigt mal wieder Mysteriöses, und das kann ich nicht für mich behalten. Nun, ich fange einfach mal relativ ausschweifend an.

Ich habe in einer meiner ersten Kolumnen voriges Jahr erzählt, dass ich klassische Musik sammle — dies vor allem natürlich aus Liebe zur Musik, aber neuerdings auch aus musikhistorischem Interesse. Nämlich erhielt ich die fantastische Möglichkeit, eine Riesenportion CDs zu ergattern, mit sehr sehr viel Musik aus dem Spätmittelalter / der Frührenaissance. Werke von Komponisten, die zwischen 1290 und 1470 geboren wurden. Hochbegabte und fleißige Leute, die heutzutage nicht den Bekanntheitsgrad von Bach, Mozart und Beethoven genießen.

Oder kennt jemand von euch Guillaume Dufay? Johannes Ockeghem? Jacob Obrecht? Jene kannte ich auch nicht, aber das waren damalige Berühmtheiten, deren Werke hochgeschätzt wurden. Von diesen und zahlreichen anderen Komponisten wurden weltliche, aber vor allem Tausende von geistlichen Liedern geschaffen. Auftraggeber waren der Adel und natürlich: die katholische Kirche. Diese Komponisten hatten alle eine sehr gute Gesangsausbildung, das absolute Hauptinstrument in der damaligen Zeit war nämlich die menschliche Stimme — vor allem in den geistlichen Werken ganz pur dargeboten. Es wurde gesungen, gesungen und gesungen! Meist Mehrstimmiges und Vielschichtiges erklang auf Lateinisch in den Kirchen und Kathedralen.

Nun wird man dreißig CDs einlegen können, mit Gesangsstücken aus dieser Zeit und man wird behaupten können: Mein lieber Schwan, das klingt ja alles total gleich! Na gut, aber wie auch bei der genauen Untersuchung von zwanzig CDs mit Gangsta-Rap muss man halt ins Detail gehen, um die subtilen Feinheiten der Stimmführung und der klanglichen Überlagerungen bestaunen zu können. Und man muss natürlich lateinisch können. Beim Rap braucht man freilich kein Latein, dafür kann in jedem Song mehrmals der Begriff „Motherfucker“ herausgehört werden.

Wo waren wir stehen geblieben? Übrigens: Der berühmte Schriftsteller Max Goldt hat in seinen Anfangsjahren mit einer gewitzten Kolumne bei der Satirezeitschrift „Titanic“ geglänzt, auch indem er mitten in den Artikeln komplett das Thema gewechselt hat. Radikal! Ist also nicht schlimm, wenn ich nun einen kleinen Bruch vollziehe.

Das Mysteriöse! Wie aus kleinen, scheinbar unbedeutenden Ereignissen monströse Veränderungen geschehen sind.

Adolf Hitler hat als Jüngling gerne gemalt und mehrmals vergeblich — zuletzt 1908 — versucht, an der Wiener Kunstakademie aufgenommen zu werden. Man wollte ihn nicht. Hätte damals nur ein weiser Professor gesagt: »Ach, dieser Hitler, der hat zwar nur so viel künstlerisches Talent, wie in einen Fingerhut passt, aber in Gottes Namen, ich lasse ihn studieren, damit er von der Straße weg ist, vielleicht wird aus ihm ja doch noch ein anständiger Maler.« Das wäre mal eine richtig gute Entscheidung gewesen, aber leider, leider…

Auf der anderen Seite kann man froh sein, dass Jesus von Nazareth als Kind auf einer schotterigen Anhöhe nicht ausgerutscht und saudumm hingefallen ist und sich einen Schädelbasisbruch zugezogen hat. Jesus hätte sich damit zwar eine Riesenquälerei durch die römischen Folterknechte erspart und das grausame Geschlepp des großen Holzkruzifixes und letztendlich den hässlichen Tod am Kreuz. Aber das Neue Testament hätte sich damit auch erübrigt.

Überhaupt nicht vorhanden wäre dann die christliche Religion in der Form, wie wir sie heute kennen. Es gäbe nicht die katholische Kirche. Es gäbe nicht die von der katholischen Kirche in Auftrag gegebenen unzähligen Ölgemälde und Schnitzereien mit Christus am Kreuz. Es gäbe sicher auch keine Abbildungen der Heiligen Familie zu Bethlehem, weil Jesus nur eines von vielen Kinden gewesen wäre, die leider schon in der Kindheit verstarben. Die ganzen schönen Sprüche! „Herr, vergib Ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Ungeschrieben geblieben!

Es gäbe keine Holzkruzifixe in bayerischen Küchen und keine Marterl am Wegesrand. Es gäbe keine schmückenden Goldkettchen mit edelsteinverzierten Kreuzchen dran. Es gäbe keine harten Männer mit Tatoos mit gruselig verzierten Kreuzen (eingebrannte Totenköpfe und Drachen und nackte Göttinnen, die hätten die harten Männer allerdings schon).

Man stelle sich vor: Eine Welt ohne Kruzifixe! Man hätte keine wirksamen Waffen mehr gegen Vampire. Den Horrorfilm „Der Exorzist“ gäbe es nicht (was schlimm wäre). Und meinen Lieblingsfluch „Zefix“, den gäbe es auch nicht! Furchtbar!

Was hätten wir stattdessen? Das könnte alles sein! Ich will uns eine Aufzählung von x-beliebigen, anbetungswürdigen Gegenständen ersparen. Vielleicht würde in jeder bayerischen Küche der Elefantengott Ganesha hocken, so wie bei mir.

Und um nun wieder den Bogen zur geistlichen Musik auf meinen vielen schönen Renaissance-CDs zu spannen: Die gäbe es so wohl auch nicht, schluchz! Keine einen tief in der Seele berührenden Gesänge (zumindest keinen über einen Gottessohn Jesus), darüber hinaus kein Weihnachtsoratorium von Bach und keine Matthäus-Passion — nicht mal eine Rockband namens Nazareth gäbe es! Und Frau Ciccone wäre bestimmt mit einem ganz anderen Künstlernamen berühmt geworden, denn ihre Eltern hätten sie vermutlich nicht Madonna getauft, sondern vielleicht Helena oder Diana. Motherfucker-Songs dagegen gäbe es wohl noch mehr, als wir davon sowieso schon im Überfluss haben.

So wollen wir froh und glücklich sein, dass Jesus von Nazareth seine Kindheit überlebt hat, an das Kreuz genagelt worden ist und danach auferstanden und in den Himmel gefahren. So steht’s geschrieben und so wollen wir es haben — alleine schon wegen der unermesslichen Fülle an Kunstwerken und kulturellen Erzeugnissen, die daraus resultiert sind. So schaut’s aus. Adolf Hitler ist leider passiert, Jesus Christus ist Gott sei Dank passiert.

Als ich 1986 nach meinem Studium drei Monate faul herum lag, rief mich mich mein guter Freund Roland an, er hätte gerade zufällig eine Stellenanzeige gelesen, da würde ein Grafiker gesucht. Ich hatte eigentlich keine Lust auf ein Vorstellungsgespräch, habe es aber dann doch getan. Ich wurde eingestellt von Elisabeth. Ich heiratete sie und bekam von ihr die kleine Marlena. Und wurde dank Elisabeth zum ordentlichen Grafiker, der sich in München ein Haus kaufen konnte. Alles nur wegen Rolands Anruf. Hätte er nicht angerufen, wäre ich heute eine arme Wurst in Markt Schwaben, die nichts auf die Reihe bekommt. Nicht mal einen Blog.

Hitler, Jesus, Roland. Die Welt ist — so wie sie ist — rein zufällig so geworden. Es gäbe unendlich viele andere mehr oder weniger wahrscheinliche Möglichkeiten im Gleisesystem des Lebens… wenn das nicht mysteriös ist!

Herrn Harant ist immer noch im Umzugsstress, daher hier ein Hörspiel aus seinem Archiv aus dem 19. Jahrhundert:

Nächste Woche gibt es ein Interview mit der unechten Heidi Klum.
Heidi K. am nächsten Samstag, ab 0:10 Uhr online.

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