134_nachtpatrouille

Liebe Leser,

nachdem das öffentliche Leben zum Stillstand gekommen ist, fühle ich mich verpflichtet, das zu kompensieren, indem ich mehr Blogs veröffentliche als bisher. Zumindest bis zum 19. April.

Vorgestern glitt ich zum letzten Mal durch die spätabendlichen Fluten meines über alles geschätzten Pools im Werk 12 beim Ostbahnhof. Ich war der einzige im Wasser, Wehmut überkam den Einsamen, er dachte an liebe Menschen, von denen er sich wünschte, sie würden neben ihm im Becken plantschen und lachen. Ihn umarmen.
Doch sein Begleiter war nur der Mond, der ihn mit ruhigem Blick studierte und zuverlässig vierzig Bahnen mitzählte.

Gestern unternahm ich Unglaubliches. Schwang mich um 22.30 Uhr aufs Zinkl-eBike, um in der Münchner Fußgängerzone Zombies zu suchen. In großen geschwungenen Kurven radelte ich die Sendlinger Straße hindurch, die Neuhauser Straße, durchmaß den Marienplatz, vorbei ging es am Hofbräuhaus. Ein paar wenige Nachtgestalten konnte ich ausmachen, keine Zombies waren es, gut so.

Das einzige Gasthaus, welches noch Speisen anbot, war McDonalds im Tal. Weil es um 0.00 Uhr für immer schließen würde, feierte ich dort zum letzten Mal das Leben mit McRib, Pommes und Coca Cola Zero. Als ich so vor mich hinfraß und sinnierte, fiel mir ein Schwank aus meiner Jugendzeit ein — es war ebenfalls ein Nachtabenteuer.

1979 hatte ich einen guten Kumpel, Werner, mit dem ich viel unternahm. Freitagabend fuhren wir oft mit der S-Bahn von Markt Schwaben nach Schwabing, um dort ins Kino zu gehen. Zum Beispiel in einen neuen Film von Fassbinder, weil wir uns intellektuell fühlten.
Nach dem Kino hatte ich eine übermütige Idee. Ich sagte zu Werner:
„Wie wär’s, wenn wir zu Fuß nach Hause gehen würden? Einfach so, ohne Not, von München nach Markt Schwaben. Gewissermaßen als abenteuerliche Aktion.“
Werner fand die Idee lustig und so spazierten wir los, erstmal von der Münchner Freiheit zum Ostbahnhof. Es war Sommer, wir waren leicht bekleidet, trugen dünne Slipper, wir fanden uns jung und frisch — und hungrig auf das Leben.

Es war eine Zeit, in der niemand ein transportables Telefon besaß, in der man normalerweise keinen Fotoapparat mit sich führte, in der man sich nachts nur nach den Sternen oder nach der S-Bahnstrecke orientieren konnte. Werner und ich beschlossen, das Zweitere zu tun. Guten Mutes marschierten wir weiter, in östlicher Richtung. Wir navigierten auf bloße Vermutung hin, liefen ab dem Ostbahnhof viel direkt auf dem Bahngleis oder seitlich davon. Wenn ich daran denke, wie wir das damals machten, kann ich nur sagen: „Hut ab vor solch’ Wagemut!“ Wir hatten natürlich auch Glück, dass uns kein Zug überrollte.

Als wir durch Feldkirchen kamen, überfiel uns starke Erschöpfung und die Füße in den Slippern begannen zu brennen. Aber es war nicht mehr die Zeit, in der noch Züge fuhren, also liefen wir weiter, weil wir mussten. Nach Feldkirchen kam Heimstetten, danach kam Grub und es kam Poing.
Wir waren sehr stolz und aber auch rechtschaffen müde, als wir das Ortsschild von Markt Schwaben sichteten. Verabschiedeten uns berührungslos (so machte man das damals wie selbstverständlich) und jeder trottete mit letzter Kraft in sein Elternhaus, um sich dort einem tiefen und langen erschöpfenden Schlaf hinzugeben.

Als Beweis für diese außergewöhnliche Wanderschaft über eine Strecke von ungefähr 25 Kilometern hatte ich einen sehr kleinen Kieselstein, den ich irgendwo am Bahngleis aufgehoben und mittransportiert hatte. Leider ist mir dieses Steinchen irgendwann im Laufe der Jahrzehnte abhanden gekommen. Das tut mir sehr leid, aber so ist es nun mal, die Dinge verschwinden, so wie die Tage verschwinden. Interessant wäre zu wissen, wo genau dieses Steinchen im Jahren 2020 liegt, aber das wäre eine unverhältnismäßig große Recherche.

Werner lebt seit ewigen Zeiten mit seiner Familie in Pfaffenhofen und ich habe keinen Kontakt mehr zu ihm. Wir sind ein paar Jahre nach diesem Nachtabenteuer verschiedene Wege gegangen, ich fing an Kabarett zu spielen, er lernte bei einem Tanzkurs seine heutige Gattin Uschi kennen.
In den späten siebziger Jahren aber waren wir dicke Freunde gewesen, hörten zusammen Pink Floyd, gingen in die Disko, baggerten unbeholfen und daher auch erfolglos Mädels an. Wir waren damals wie viele junge Typen, aber diesen ausschweifenden Spaziergang unter dem spärlichen Licht des Mondes hatten nur Werner und ich unternommen, das dürfte ziemlich sicher sein.

Und jetzt, 2020? Ein großer Wandersmann ist der Zinkl nicht mehr, und er würde heutzutage vermutlich auch keinen Freund und erst recht keine Frau finden, die sich ihm als Begleiter für solch’ avantgardistisches Treiben anbieten würden.

Dafür ist aber sein allerliebster Vertrauter und zuverlässigster Kamerad inzwischen das Zinkl-eBike, welches er über alle Maßen liebt.
Es schnauzt ihn nicht an, wenn er nachts eine rote Ampel übersieht, es verzeiht ihm das gnädig. Es ist geduldig mit ihm, wenn er irgendwo halten muss, um eine whatsapp-Nachricht zu lesen. Es hat Verständnis, wenn er hektisch herumsucht, weil er bei McDonalds einen seiner beiden roten Lieblings-Fahrradhandschuhe hat liegen lassen. Es ist ein echter Kumpel in diesen beschissenen Coronazeiten.

Meine lieben Leser, ich wünsche euch, dass ihr gesund bleibt. Gesund und mobil, so wie ich es bis jetzt noch bin.
Seid nicht verzweifelt, wenn das Toilettenpapier ausgegangen ist. Legt euch einen leicht erhitzten und gescheit eingeseiften Waschlappen zurecht, bevor ihr euch auf die Klosettschüssel setzt. Es ist ein unvergleichlich schönes Gefühl, sich so ausgestattet der After-Reinigung hinzugeben. Und es säubert so gut, dass man sich danach auch bedenkenlos dort kratzen kann, wo man sonst nicht hemmungslos hinlangt. Den leicht verfärbten Lappen gerne in die Waschmaschine tun!

Gell, Freunde der Nacht? Jawohl, es gibt Zeiten, da muss man sich eben nach der Decke strecken.

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