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Liebe Leserinnen und Leser,

Rolf K. ist ein guter alter Kumpel von mir. Ich habe ihn ziemlich lange nicht mehr getroffen, aber spontan vor ein paar Tagen besucht — als ich mit dem Radl durchs frühlingsfrische München getrudelt bin. Er spürte mich vor über zehn Jahren auf, weil ihm diese exzentrische Zinklmusik gefiel — weiß der Geier, wo er die damals gehört hatte. Jedenfalls bekam er deswegen Lust, den Urheber dieser Werke persönlich kennenzulernen. Er rief mich an, war liebenswürdig und kommunikativ, er kam vorbei und wir wurden gute Freunde.

Rolf ist leidenschaftlicher Liebhaber anspruchsvoller Musik. Er hört die Sinfonien von Gustav Mahler, die Klangexperimente von Stockhausen, aber auch Pink Floyd, RPWL (eine Freisinger Progrock-Band), The Moody Blues, John Coltrane — Rolf kennt so ziemlich alles, was hörenswert ist. Es war und ist mir eine Ehre, dass er auch Zinklmusik schätzt und gerne konzentriert hört.

Als ich ihn damals kennenlernte und besuchte, besaß er ein eigenes Musikzimmer, mit Regalwänden unzähliger CDs und Konzert-BluRays, darunter viele kostbare und seltene Editionen — eine wahrlich beeindruckende Sammlung hatte er er da in Jahrzehnten zusammengetragen.

Es war noch nicht die Zeit der Streamings — Spotify, Apple Music, Amazon Music etc. gab es nicht oder steckten in den Kinderschuhen. Wir tauschten uns eifrig aus, ich bin ja auch ein Tonträgermessie und habe in den letzten 35 Jahren tausende von Silberscheiben gekauft und aufbewahrt. Jaja, dem wahren Sammler ist keine Mühe zu groß und kein Preis zu teuer, um seine Lieblinge um sich zu scharen, zu sortieren, zu streicheln, zu hegen und zu pflegen.

Nun, als ich Ende diesen Monats, März 2022, Rolf endlich mal wieder persönlich sprechen konnte, in seinem Münchner Domizil, staunte ich nicht schlecht. Die Wohnung war absolut befreit von allen Spuren physischer Tonträger. Kein Regal mehr mit CDs oder DVDs! Rolf hatte alles weggegeben. Alles verschenkt und verkauft. Ja, man kann sagen: verscherbelt! Über Online-Gebrauchtwarenhändler wie Momox und Rebuy. Da bekommt man pro CD 15 Cent oder vielleicht noch ein bisserl mehr, wenn es eine Rarität ist.

Rolf meinte, es sei eine Befreiung ohnegleichen, denn er höre schon seit Jahren Musik nur noch über die Streamingdienste und da gäbe es ja inzwischen alles, was man kennt und noch viel viel mehr, was sich zu entdecken lohnt. Anfangs sei es hart gewesen, sich von seinen treuen Kameraden in den Regalen zu trennen. Diese unschätzbaren Schätze! Aber inzwischen sei er froh (und seine liebe Frau Martina freilich auch), dass die Wohnung nun so luftig und auch schöner geworden sei. All der vieltausendköpfige Ballast, den man nicht mehr benötigt: hinfort! Und 4.000 Euro hätte er immerhin auch noch eingenommen, durch die Verkäufe.

Ich war schockiert und musste an meine eigene Wohnung denken. Dass ich darin noch nicht erstickt war, machte mich auf einen Schlag wundern. Ich besitze soviele CDs, dass ich einige Tage und Nächte beschäftigt wäre, wenn ich das alles auflisten wollte. Und es geht mir wie Rolf. Ich höre nur noch digital: entweder von meiner eigenen gigantischen MP3-Sammlung oder immer mehr über Spotify. CDs kann ich schon lange keine mehr erwerben, denn ich habe nirgendwo mehr Platz in meiner zweigeschossigen Burg. Die vielen Regale und Schränke bersten fast und sind so schwer wie Elefanten.

Das war für mich die Initialzündung. Rolf! Du hast mir einen Weg gezeigt. Einen Weg heraus aus dem Wahnsinn meiner anfassbaren Musiksammlung. Welche ungenutzt vor sich hindümpelt, und — schon lange von mir alleine gelassen — traurig verstaubt, allerhöchstens noch von Weberknechten registriert wird.

Noch am gleichen Abend fing ich an. Ich kaufte bei ebay-Kleinanzeigen einen ordentlichen Stapel mit festen Kartons, davor grübelte ich verzweifelt darüber nach, was ich als erstes über den Jordan geben wollte. Ich lud die Momox-App aufs Handy und merkte, wie simpel das Verkaufen funktioniert: einfach den Strichcode auf der Rückseite der CD scannen.

Es wird sofort der Preis angezeigt: Miles Davis „Tutu“ 0,15 Euro. Das ist wenig Erlös für ein Album, welches man in den 90er Jahren für DM 32,99 DM gekauft hat. Aber da muss man durch. „Tutu“ kann man überall streamen. Wenn man es denn überhaupt noch mal hören muss. Eigentlich ja nicht. Von Miles Davis gibt es Besseres. Ich habe alle Alben von Miles Davis und sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr in den CD-Player eingelegt, weil es über Spotify schneller und bequemer geht. Das ist bitter, aber das ist so.

Jedenfalls fing ich damit an, alle CDs zu scannen und zu verpacken, die ich keinesfalls vermissen würde: aus den Bereichen Jazz, Chanson, Liedermacher, Filmmusik, Opern. Nach zwei Stunden hatte ich 92,22 Euro gesammelt, für ca. 50 Stück Tonträger. Und das war erst der Anfang. Ich hatte Feuer gefangen und Blut geleckt. Für „The Greatest Hollywood Western Soundtracks“ erhielt ich von Momox fette 1,76 Euro. Dafür spendete man mir für bedeutende Richard Wagner-Opern nur jeweils 15 Cent pro Schuber. „Tannhäuser“, goodbye. „Götterdämmerung“, auf Nimmerwiedersehen.

Immerhin: Der Soundtrack von „Der mit dem Wolf tanzt“ (die 25th Anniversary-Edition) warf unglaubliche 23,19 Euro ab. Das war aber tatsächlich eine Rarität, das wusste ich schon vorher; bei ebay hätte es evtl. das Vielfache gegeben, aber ich habe nicht die Zeit, tausend CDs bei ebay einzustellen und zu beaufsichtigen.

Ich stellte fest, dass es richtig Spaß macht, loszulassen. Sich zu befreien. Jedoch: Die ganze brutale und gnadenlose Härte dieses Prozesses sollte mir erst noch bewusst werden. Darüber berichte ich dann im zweiten Teil meines „Ausmisten“-Blogs, sehr bald in diesem Theater.

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P.S.: Apropos „brutal und gnadenlos“. Mir ist sehr wohl bewusst, dass es in diesen Zeiten von Seuche und Krieg lächerlich wirken kann, wenn man sich mit einem solchen Thema beschäftigt und auch noch darüber schreibt. In der Ukraine wird den Leuten ihr Hab und Gut mit Bomben weggenommen, von einem Terroristen, den der Teufel reitet. Aber ich habe beschlossen, nicht nur noch daran zu denken.

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