Liebe Leserinnen und Leser,
dies ist Teil 2 der Abhandlung über mein radikales „Space Clearing Project“. Diesmal geht es allerdings um eine weitreichende Kulturvernichtungsaktion, die mir ein schweres Paket an Gewissensbissen und ein sprudelndes Bächlein an Tränen der Trauer verabreicht hat.
In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts war ich nicht nur ein „day and night working man“ in meiner ehrenwerten und lukrativen Tätigkeit als Grafik-Designer, sondern ich dachte, ich könnte zugleich ein Musiker sein, dem Ruhm und Ehre zuteil werden. Daher produzierte ich autodidaktisch Stücke der raffinösen Art an einem extra Computer und veröffentlichte 1994 mein erstes Zinklmusik-CD-Album „No Snaildance, Please“. Der Titel deutet es an: Ich war ein Ruheloser und Getriebener. 1995 erschien der Nachfolger „Lovely Night Creatures“, will sagen, dass meine musikalischen Ergüsse vor allem in den dunklen Stunden der Nacht das Licht der Welt erblickten. Und ich machte weiter…
Damals, vor rund 30 Jahren, war die Compact Disc das alles beherrschende Tonträger-Medium. Die Vinyl-Schallplatte war so was von out und wurde eigentlich nicht mehr produziert — und das MP3-Format sollte seinen weltweiten Siegeszug erst ab 2001 antreten, mit der Erfindung des Apple iPods. Meine Zinklmusik erschien also auf CD, klarer Fall.
Damals boten die CD-Produktionsfirmen noch keine Kleinauflagen an und auch ich dachte mir: „Think Big“. Daher ließ ich von meinen Alben immer gleich jeweils tausend Stück pressen, in der stillen Hoffnung, ich könnte diese unters musikhörende Volk bringen. Ich hortete die wertvolle Ware in einer Abstellkammer und in dem so gut wie nie betretenen Dunkelraum unter der Kellertreppe, wo die Weberknechte ihr feines Leben führen.
Ein paar wenige dieser Tonträger landeten in einsamen Verkaufsregalen in München, Helsinki und Omaha (meine Plattenfirma gab sich alle Mühe) — jedoch die allerallermeisten sollten die Dunkelzonen nie verlassen. Ruhm und Ehre bekam ich von Connoisseuren, Insidern und Freaks — damit war ich durchaus happy.
Bis vorgestern stapelten sich bei mir noch zigtausende von CDs von den ersten sieben Zinklmusikalben und warteten geduldig auf ihren Einsatz. Welcher seit einigen Jahren immer unwahrscheinlicher wurde, weil die musikhörenden Menschen inzwischen für eine monatliche Minigebühr alles streamen können, was es weltweit gibt. Meine Musik wird mittlerweile auch in bescheidenem Maße gestreamt. Keine Sau will noch eine CD kaufen.
Ich traf eine schwere Entscheidung, die mir schon seit geraumer Zeit in den Gedärmen rumorte. Ich holte die gute Ware aus ihrer staubigen Gruft hervor und verteilte sie in Bücherpackkartons. Eine kleine Auswahl CDs legte ich auf den Bürgersteig mit dem handgeschriebenen Hinweis: „Interessante Musik zu verschenken“. Den riesigen Rest schleppte ich schwitzend und weinend in den Benz und trat den Gang nach Canossa an: zum Wertstoffhof in der Münchner Arnulfstraße. Oh weh! Oh jemine!
Ein in leuchtendem Orange gekleiderter bärtiger Mann inspizierte die Ware respektlos und meinte, ich müsse das alles auspacken und jede CD trennen: in den jeweiligen Anteil an Plastik (Einschweiß-Folie und Tray), CD (Metall) und Booklet/Inlaycard (Papier). Ich fing an zu lamentieren, dafür bräuchte ich eine Woche. Ein ebenfalls in Orange gekleiderter Kollege hatte Mitleid und deutete stumm auf einen riesigen Container.
So wuchtete ich also die geöffneten Kisten die scheppernde Containertreppe hoch und kippte meine wertvollen Werke dorthinein, wo sich bereits ausrangierte Mistgabeln, zerbrochene Spiegel und grindige Matratzen tummelten. Was für ein Elend, was für ein Schrecken. Es stach mir tief ins Herz, meine Kinder unzähliger kreativer Nächte so würdelos in die ewigen Jagdgründe verabschieden zu müssen. Nur gut, dass Alexandra dabei war und mir moralische Unterstützung gab.
Auf der anderen Seite spürte ich erhebliche Erleichterung, denn der Tonträger-Ballast vieler Jahre fiel plötzlich von mir ab — und ich fühlte mich so leicht und froh, wie ein Wanderer, der endlich die Gipfelalm erreicht hat.
Als ich heimkehrte, bemerkte ich, dass meine Gehsteig-Geschenke verschwunden waren. Wenigstens diese sollten vielleicht doch noch in den Player wandern? Vielleicht hätte ich alle Pakete dort abstellen sollen, über die Jahre wären sie wohl abgetragen worden. Aber nein, sowas kann man nicht bringen.
Natürlich habe ich von jeder Zinklalbumsorte noch 30 Stück behalten. Auch diese werden wohl nicht verkauft werden, aber in einer großen Schublade einsortiert sehen sie doch recht hübsch aus und vertreten ihre vernichteten Kollegen in Würde. Wenn ich mal nicht mehr bin, lasse ich sie mir in den Sarg legen, um sie dann im Nirwana um mich zu haben, meine wunderbaren Kinder der Nacht.
Oh Anton – ich denke an den Ton, den auch ich lagere. Da ich ein Lebenswerk von 30 CDs schuf in 25 Jahren Berufsmusiker wiegt mein Herz noch schwerer. Über 10’000 Kulturwerke auf Scheibe harren der Entsorgung. —— Aber halt! Da kam doch diese Nachricht aus den USA, wonach die Kinder von Spotify wieder Musik besitzen wollen. Die CD-Verkäufe sind wieder am Steigen, erstmals seit einem Jahrzehnt. Und die USA waren uns doch immer einen Schritt voraus, bei Krieg oder Kunst.
Meine Hoffnung wächst, dass der Jäger und Sammler im Menschen sich auf die Jagd nach Berner Mundart-Scheiben macht. Die Wohnstatt der klingenden Beute gebe ich hiermit bekannt: http://www.rolandzoss.com
LikeGefällt 1 Person