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Liebe Leser,

der Schreiner Lederer hat mir heute geschrieben, dass es für ihn schlicht zu heiß ist zum Arbeiten. Ich warte sehnlichst darauf, dass er mir eine wegen Überlastung gebrochene Schublade repariert.

Na gut, es IST heiß draußen, eeendlich einmal. Muss man deshalb gleich das Arbeiten einstellen? Aber Handwerk hat ja immer noch goldenen Boden, auf den kann man sich auch mal legen, bevor man in seinem eigenen Schweißbad ertrinkt. Ich sitze fast nackt vor dem Computer, mache ein paar Online-Überweisungen und bin froh, dass es Juni ist und nicht Februar.

Die gebrochene Schublade! Mein Gott. Es ist ja auch kein Wunder, wenn man sie so belastet mit CDs, als ob ein Elefant drin Platz genommen hätte. Ich habe einen weißen Schubladenschrank, der ist vierzehn Meter lang und 6,80 Meter hoch. Er besteht nur aus Schubladenfächern und ist pickepuckepacke randvoll mit Compact-Discs. Furchtbar ist das: Weil ich diese antiken Tonträger aus besseren Zeiten gar nicht mehr brauche!

Schon längst ist das alles digitalisiert worden in fünfzehnjähriger Fleißarbeit — und auf einer mehrfach gesicherten Festplatte abgespeichert — natürlich penibel katalogisiert nach Musikstilrichtungen. Die Covers habe ich ordentlich gescannt und sie bekamen vom Grafiker Zinkl ein individuelles farbliches Feintuning. Das hat in dieser Form nicht jeder.

Sehr viele Menschen nutzen ja inzwischen Spotify oder Apple Music, aber nicht der Zinkl. Der will die Lieder nicht nur mieten, nein! Er will sie besitzen und außerdem die Zusammenstellung seiner Musik und deren optische Präsentation selbst im Griff haben. Da ist der Zinkl streng und eigensinnig. Und liebt das genau so.

Nun aber zurück zu den geplagten Schubladen! Freilich: Die CDs haben Booklets mit Bildern drin und sehr oft sind auch die gesungenen Texte abgedruckt zum Mitlesen. Wenn man eine Lupe hat, kann man das gerne tun. Beim Zinkl hilft aber auch keine Lupe mehr, abgesehen davon kann er sowieso so schlecht Englisch, so dass er die meist englischsprachigen Lyrics mit einem Translator studieren müsste. Was für eine Mühe!

Also: Die CDs inkl. Booklets werden schlicht und einfach nicht mehr gebraucht. Ich könnte das gigantische Kontingent an meine beiden Töchter vererben, wenn ich mit 99 Jahren das Zeitliche segne. Das wäre für die beiden Hübschen eine wunderbare Belastung, sie würden mir zum Dank vermutlich die Blumen auf dem Grab vertrocknen lassen.

Aber ich vermute, dass es in 30 Jahren gar keine CD-Player mehr geben wird. Genauso, wie es auch fast keine Grammophone für Schellackplatten mehr gibt. Obwohl zwar die allüberall gepriesene Schallplatte aus Vinyl fröhliche Urstände feiert, irgendwann wird dieser Hype auch zu Ende gegangen sein und die uralte Technik verschwindet dorthin, wo jegliche uralte Technik verschwindet: ins Nirwana.

Also: Die zum Anfassen vorhandene beste und vollständigste Musikbibliothek aller Zeiten im Bereich Klassik und Rock / Pop / Jazz ist so unnütz geworden wie ein Olchi-Kinderbuch, wenn das Kind bei dem Wort Olchi nur noch nostalgische Anwandlungen bekommt. Es ist so was von traurig. Was soll ich tun?

Ich kann nun meinen Lebensabend damit verbringen, CD für CD bei ebay einzustellen und pro CD 43 Cent erhalten. Vielleicht bekomme ich für manches Exemplar noch einen ganzen Euro. Und für eine Rarität 144 Euro, aber wer sammelt schon Raritäten auf CD? Sammler von Tonträgern sind eher scharf auf Vinyl, was ich nachvollziehen kann (siehe meine Blogs 033 / 036 / 038). Abgesehen davon: Will man dreißig Jahre damit vertun, ebay-Auktionen zu überwachen?

Es gibt ja viele Leute, die bei ebay ihre großartige CD-Sammlung in einem Schwung für eine Pauschale verscherbeln, zu einem Preis, der vielleicht ein Prozent der ehemaligen Anschaffungskosten beträgt. Sowas bringe ich einfach nicht übers Herz. Man hängt doch auch an seinen Sachen. Und will sie nicht unter Wert weggeben. Ich bringe das einfach nicht.

Steely Dan, die Goldversion von AJA! Die gebe ich niemals her. Oder das extrem seltene zweite ETHOS-Album, ein Japanimport im Papersleeve. Dafür würde ich ein Jahr lang aufs Duschen verzichten.
Oder die ersten sechs Genesis-Alben, ebenfalls von fleißigen Japanern in einer hochwertigen Sonderauflage angefertigt. Diese sehen aus wie die aufklappbaren Vinyl-Schallplattencover, aber auf 12 x 12 cm herunterverkleinert. Ganz herzallerliebst! Ab und zu hole ich eines dieser wunderbaren Exemplare raus aus der Schublade und betrachte es, so wie man alte Babyfotos von sich oder seinen Kindern betrachtet.

Man ahnt schon: Meine Töchter werden den ganzen Scheiß erben. Sie werden den Schubladenschrank umkippen und mit allem, was herausgefallen ist, 60 Mülltonnen füllen. Bis auf 500 wirklich wichtige Raritäten. Die lasse ich vorher mit meinem heiligen 99-jährigen Körper einäschern und mit in die Urne schütten. Diese wird ja hoffentlich dann nicht im Müll landen, sondern einen Ehrenplatz bei einer meiner beiden Töchter bekommen.

Ich höre jetzt schon das Gezeter, wer von den beiden Damen gezwungen sein wird, die Zinkl-Urne aufzustellen. Ich hoffe, man wird sich einigen können.

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