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Liebe Leser,

ein fröhlicher Mann namens Murphy behauptete: „Anything that can go wrong will go wrong.“ „Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen“. Wunderbar!
Gilt es genauso, wenn man diese These umdreht? Alles Gute, was geschehen kann, wird auch geschehen. Naja, da bin ich skeptisch — aber logischerweise müsste es stimmen.

Der Begriff „schiefgehen“ definiert ziemlich eindeutig unerwünschte Auswirkungen. Wie steht es diesbezüglich mit Gewinnspielen? Einen Sechser mit Zusatzzahl könnte man bekommen, aber wird man ihn je haben? Sehr unwahrscheinlich, man selbst vielleicht nicht, aber irgend ein anderer Lottospieler zu einer anderen Zeit? Der weltweit größte Lotterie-Einzelgewinn fand mit 877 Millionen Dollar in USA statt, erst kürzlich passiert. Das ist nun ein Fall, dem man den Begriff „schiefgehen“ eher nicht zuordnen würde. Allerdings: kommt auf den Standpunkt an. Nicht unbedingt muss das für den Gewinner nachhaltig ein positiver Vorfall sein. Vielleicht hält er es nicht aus und wird dadurch todesunglücklich?

Im Jahre 1995 spielte Dustin Hoffman die Hauptrolle in dem amerikanischen Virenthriller „Outbreak“. Und 2011 drehte der Regisseur Steven Soderbergh „Contagion“ mit vergleichbarer Thematik. Am schlimmsten erging es der Menschheit bei der Serie „The Walking Dead“.
Solche Filme zeigen thrillergemäß ziemlich Drastisches und die Zuschauer können sich über entsetzliche Vorgänge gruseln, hatten aber bisher immerhin das beruhigende Gefühl, dass dieses Thema doch bestimmt auf der Leinwand bzw. Mattscheibe bleiben würde.

Aber Murphy hat es gesagt. Und nun hat die Menschenwelt das Malheur. Dabei könnte es noch viel viel schlimmer sein, so wie in den Filmen. Klar, alles kann immer noch krasser kommen, aber diese Dosis weltweites Unglück ist ja erstmal genug — vor allem für diejenigen, die davon wirtschaftlich und/oder gesundheitlich betroffen sind oder sogar daran sterben müssen. Auch nicht zu vergessen: Viele Frauen und Kinder werden leiden unter der Quarantänemaßnahme „Zuhause bleiben“, denn es ist zu befürchten, dass häusliche Gewalt damit noch mehr zunehmen wird.

Es gibt ein paar wenige, denen geht es im Roulett des Lebens aktuell trotzdem gut, weil sie die Seuche glücklicherweise kaum trifft, obwohl sie natürlich auch jederzeit „dran sein können“.
Zinkl beispielsweise wohnt und arbeitet alleine in seiner „Komfortzone“, er schwingt sich mit seinem Kopfhörer aufs Rad, wenn es nicht regnet, wie immer kauft er Pink Lady-Äpfel und Fleischsalat und tiefgefrorene Meeresfrüchte. Seine Töchter und seine Mutter sind gesund. Er bekommt per E-Mail Jobs und tüftelt als Grafiker wochenlang an Zahlentabellen und statistischen Darstellungen, Pixel für Pixel, für einen Auftraggeber, der es eben auch in Seuchenzeiten pixelgenau nimmt. Der Zinkl findet das in Ordnung, er wird dafür gut honoriert und kann Kartoffeln kaufen.

Dafür hatte er vor wenigen Jahren seinen ganz persönlichen Virus, und zwar im Schädel. Dieser Zinkl-Virus hatte vielfältige Auswirkungen gehabt: beim Gespräch dauernd den roten Faden verlieren; dahinvegetieren mit einer drückenden Wand aus gefühltem Styropor vor der Stirn; auf der Schauspielbühne ganz plötzlich aus der Szene fallen und dastehen wie eingefroren; in ein simples Hotelanmeldungsformular seinen Wohnort und sein Geburtsdatum nicht mehr eintragen können. Selbstverständliches wurde zu einer gigantischen Überforderung.

Zinkl hat das zum größten Teil überwunden, aber nie vollständig, in Schüben kommt es immer wieder, unerwartet und hinterhältig. Nur beim Radfahren bleibt es weg. Und beim Schwimmen. Schwimmen im Hallenbad ist ja nicht mehr erlaubt, Radfahren glücklicherweise bisher nicht verboten worden, denn das ist für ihn essentiell geworden.

Wieso sich mein Gehirn so defizitär aufführen muss, konnte und kann ich nur erahnen. Vielleicht ist das der Preis für ein zu hektisches Leben, für ein Vielzuwichtignehmen von Beruf und das Übertreiben von kreativen Hobbys. Der größte Stress ist zwar teilweise schon Jahrzehnte her, aber meine Synapsen verweigern sich trotzdem immer mal wieder. Die Drecksbande spielt Phantom-Burnout.

Wie auch immer — ganz persönlich  — Corona juckt mich nicht.
Mit der Beschneidung bestimmter Freiheiten komme ich bestens klar. Volle und laute Gaststätten sind mir schon lange ein Greuel. Auf Menschenmassen in Konzerten und auf dem Tollwood-Festival kann ich gut verzichten. Gedränge beim Bäcker ist Schnee von gestern. Auf einmal gibt es luftige Warteschlangen, großartig! Und ich koche, weil man nicht mehr ins Restaurant gehen kann.
Dass die von der Regierung vorgegebenen Einschränkungen kein Dauerzustand sein werden, ist trotzdem irgendwie beruhigend. Hätte schon auch Lust, bald wieder zu grillen, mit Freunden. Vielleicht bereits 2021 möglich?

Irgendwann wird die Pandemie überwunden sein und es wird wieder so sein wie zuvor. Die Leute werden dagegen geimpft sein — aber dafür wird wieder gedrängelt werden, sowohl körperlich als auch geistig. Da hilft auch keine Impfung.

Ich wünsche euch allen, dass ihr fit bleibt. Dass euch Corona nicht erwischt, aber dass euch auch alle sonstigen Krankheiten nicht erwischen. Der Mensch ist ein furchtbar empfindliches Wesen. Und passt auf, denn Murphy hat wohl recht. Die Zukunft hat noch einiges an „Schiefgehen“ parat.

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