143_Ungeduld

Liebe Leser,

über die letzten 20 Jahre hinweg habe ich versucht, wichtige Weisheiten aufzusaugen, die bedeutende Philosophen und diverse erleuchtete Menschen (auch aus dem verquasten Bereich der Religion und der Esoterik) von sich gegeben haben, um der Spezies Mensch in ihrer Entwicklung zu helfen, sie moralisch zu stärken, sie zufrieden und glücklich zu machen, im Leben und im Zusammenleben untereinander.

Eine dieser Weisheiten habe ich mir immer wieder injiziert, auf dass sie mein Handeln und Denken wie selbstverständlich begleitet, justiert, korrigiert. So dass sie gleich einer göttlichen Emulsion in meinen Synapsen wabert und diese friedvoll stimuliert, sollte sich – wie bei mir üblich – mal wieder hektisches Agieren die Bahn brechen.

Ja, ich bin ein Mensch, der zeitweise auf Beobachtende den Eindruck macht, als sei er in unnötiger Eile. Ob beim Futtern des Frühstücksbrotes, ob beim Abnehmen der getrockneten T-Shirts vom Wäscheständer, ob beim Aufpumpen der Fahrradreifen – dass ich dabei wie in Zeitlupe wirke, kann man beim besten Willen nicht behaupten.
Dieses hastige Tun, welches ich gar überhaupt nicht an mir spüre und erkenne, wird mir nur dann gewahr, wenn eine Dame zu mir sagt: „Was wuselst du denn schon wieder so herum!“

Ich reagiere dann überrascht und durchaus auch beleidigt (leider), denn das Tempo meiner Handlungen hat ja keine negative Qualität auf das Ergebnis.
Klar, beim Herunternehmen der T-Shirts fällt schon mal das eine oder andere auf das Parkett und ich muss mich dann danach bücken. Oder mir gleitet die Essiggurke in die Spüle, nachdem ich sie mühevoll aus dem Glas gefischt habe. Oder ich reiße mir einen blutigen Schlitz in den Zeigefinger, wenn mir die Luftpumpendüse durch die Radspeichen flutscht.
Das ist doch nicht schlimm! Das stört mich persönlich viel weniger, als die Person, die das beobachten muss. Ich leide nicht darunter. Ich fluche ganz kurz ob des Missgeschicks und weiter gehts im Leben. Kein Ding.

Trotzdem kommt mir immer wieder diese Injektion in den Sinn:
DER WEG IST DAS ZIEL.

Genau! Was bedeutet dieser Spruch? Er will sagen: Die Bewegung oder Handlung, die man vornimmt, um eine bestimmte Sache zu bewerkstelligen, hat mindestens genausoviel Wichtigkeit wie der finale Zustand, der nach Abschluss der Aktion erreicht ist. Also:
Das Herunternehmen des T-Shirts vom Ständer ist genauso zu genießen, wie das Gefühl, wenn das akkurat zusammengefaltete Kleidungsstück letztendlich in der Schublade zu liegen kommt. Das Kauen des Wurstbrotes ist genauso zu schätzen wie das Gefühl, wenn der Wurstbrotbrei im Magen angekommen ist und eine angenehme Sättigung eintritt. Das Aufpumpen der Radreifen ist genauso schön, wie das Gefühl, wenn man mit hübsch prallen Reifen durchs grüne Wald- und Wiesenland rollt und hoppelt.

Mit Verlaub: Das ist doch gequirlte Sch…! Esoterischer Humbug. Buddhistischer Nonsens. Leben im Hier und Jetzt. Der Weg ist das Ziel. Blödsinn. Mein Gott, wie mich das annervt, dieses Getue.

Der Urmensch ging doch nicht auf die Jagd nach dem Riesenhirschen, weil es für ihn so spaßig gewesen ist, sich mit seinem Speer und seiner schweren Steinaxt durch den Morast zu schleppen. Sondern weil er sich frisches blutiges Hirschfleisch einverleiben wollte und zwar schnell, bevor er am Hunger zugrundeging.
Und der Mensch der Neuzeit steht eben nicht vor der Ampel und genießt das hübsche rote Licht, nein, er giert danach, dass er bei Grün endlich wieder aufs Gas treten kann.

Richtig, der Mensch ist von Anfang an ein ungeduldiges Geschöpf gewesen. Aus gutem Grund. Denn wäre er das nicht, nämlich ungeduldig, dann gäbe es auch keinerlei Fortschritt, sondern nur Stillstand.
Ungeduld ist die starke Triebkraft, die zum notwendigen Ziel führt, sie ist lebenserhaltend. Je schneller, umso besser, denn die Konkurrenz schläft nicht. Die Ungeduld ist ein Segen, ohne sie hätten Wissenschaftler keine Wirkstoffe gegen Krankheitserreger entdeckt. Ohne sie gäbe es keinen elektrischen Strom (welcher auch übrigens selbst nicht herumtrödelt, sondern blitzartig schnell agiert). Ohne die Ungeduld gäbe es kein leckeres McDonalds-Futter, sondern nur lauwarmen Feinschmeckerkram, der ewig braucht, bis man ihn endlich essen kann.

Ich habe erkannt: Ich bin ein Mann der Ungeduld, je älter ich werde, umso mehr! Sollen doch Buddhisten ihre Om Mani Padme Hums vor sich hinbrummen, Erleuchtete stumm stundenlang in den leeren Raum hineinspüren, für sowas habe ich keine Zeit, jetzt als 60jähriger noch weniger als früher.
Ja, auch ich habe die Bücher des weltbekannten spirituellen Weisheitslehrers Ekkehart Tolle gelesen. Ein Zitat von ihm: „Je mehr die Person reagiert, umso kleiner wird sie“. Ich bewundere Herrn Tolle für seine unendliche Gelassenheit, er lebt gut damit und gut davon. Ich nicht. Ich wusele. Und ich reagiere. Kann schon sein, dass ich dabei auch kleiner werde.

Den Spruch „Der Weg ist das Ziel“ lasse ich nur bei einer Tätigkeit gelten: beim gleichmäßigen und gemächlichen Herumrollen auf dem eBike durch beschauliche Wohngebiete und durch das Schwarzhölzl. Dabei ist mir nämlich völlig egal, wo ich letztendlich lande, das überlasse ich dem Zufall, es gibt kein Ziel. Da bin ich nahe bei Herrn Tolle.
Na gut, auch beim Sex kann man der Ansicht sein, es ist gesamtheitlich von Vorteil und Genuss, wenn man seine Ungeduld zum Höhepunkt kommen zu wollen zügelt, das gebe ich gerne zu.

Aber ansonsten gilt: Das Ziel ist das Ziel und nicht der Weg und wenn mir noch mal gesagt wird, dass ich herumwusele, dann reagiere ich, aber ganz lieb und werde dabei hoffentlich auch nur ein ganz klein wenig kleiner.

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P.S.: Wer sich jetzt für Herrn Ekkehart Tolle interessiert, wird auf youTube fündig werden. Ich verehre und liebe diesen Mann!

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