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Liebe Fremdschämende,

jetzt ist es amtlich: Das offizielle Jugendwort des Jahres 2021 heißt „cringe“. Es hat das Jugendwort des Jahres 2020 „lost“ abgelöst. Im ersten Jahr der Coronapandemie fühlten sich die jungen Menschen zwischen zehn und zwanzig noch verloren, jetzt ist ihnen auf einmal alles mögliche peinlich.

Ich will das analysieren. Wenn einem etwas „cringy“ ist, an sich selbst oder an anderen, dann bedeutet das: Ein bestimmtes Verhalten oder Aussehen ist nicht angebracht, es gehört sich nicht, es widerspricht einer (mehr oder weniger unreflektierten) Etikette, es könnte sogar rufschädigend sein! Wenn der eigene Vater Sandalen mit weißen Socken trägt, das kann einem jungen Menschen ziemlich cringy sein. Aber halt, das ist ein schwaches Beispiel, denn mittlerweile trägt kein Mensch mehr Sandalen mit weißen Socken. Oder? Cringy ist sicher auch, wenn man mit einer kurzen roten Turnhose in die Oper geht. Aber auch dieses Beispiel ist doof, weil NIEMAND geht mit …

Schlimm ist es jedoch durchaus, wenn man ÜBERHAUPT noch Socken trägt, die oberhalb der Schuhe sichtbar sind. Menschen, die das tun, sind entweder cringy oder voll im Trend — im zweiteren Fall müssten es dann aber schon Kniestrümpfe sein, mit deutlich sichtbarem Nike-Logo. Oder ist eine solche Markentracht erst recht cringy? Es liegt wohl immer im Auge des Betrachters und was derjenige für Erfahrungswerte gesammelt hat. Nicht bei jedem ist alles gleich cringy.

Der Zinkl versucht gerne mal, cringy zu sein. Aber nicht um zu provozieren, sondern aus rational nachvollziehbaren Gründen. Er umwickelt seinen schicken und teuren E-Bike-Sattel mit einer schmutzigen Leinentragetasche von Alnatura, weil er glaubt, dass ihm dann deswegen der Sattel nicht gestohlen wird, wegen dessen asozialer Optik. Oder er befüllt den Einkaufswagen beim Discounter mit fünfzig Fläschchen Aperol Sprizz, weil er Bedenken hat, dass es nach drei Tagen keine mehr zu kaufen gibt. Seine Töchter sind Gott sein Dank aus dem Alter heraus, dass sie sich deshalb für ihn schämen müssen; sie haben mittlerweile eher das Gefühl, dass er eine coole Sau ist, die sich nichts scheißt um irgendwelche Regeln der öffentlichen Sitte. Daran hat er aber auch hart gearbeitet, dass muss ich schon sagen.

Apropos „coole Sau“: Manchmal kann man sich gar nicht wehren, gegen das Cringe-Gefühl. Mir passiert das fast ständig beim Anschauen von Spielfilmen. Sobald es auch nur ein klein wenig sentimental wird, geht mir das so nah, dass ich anfange zu vibrieren. Das ist völlig unabhängig vom Kitschfaktor in der entsprechenden Filmszene. Es reicht schon, wenn sich alles zum Guten hin auflöst. Dann nimmt mich das so mit, dass meinen Oberkörper ein gigantisches Zittern überkommt, so dass dabei die gesamte Fernsehcouch einen Schritt nach vorne macht. Ich kann es nicht verhindern und auch nicht abstellen. Alexandra bekommt das natürlich voll mit — und mir ist das dann ziemlich cringy. Dieses exzessive Spielfilmvibrieren hatte ich vor ein paar Jahren noch nicht. Was ist bloß mit mir passiert? Was bin ich nur für ein Weichei geworden, im Alter.

Ansonsten ist der Zinkl ja der Ansicht, dass einem nichts aber auch gar nichts peinlich sein muss, wenn man sein Verhalten selbstbewusst und originell und natürlich politisch korrekt vertreten kann. Aber hier geht es ja um das JUGENDWORT des Jahres, nicht um irgendwelche Etikettenverstöße eines ignoranten Rentners. Teenager sind selten selbstbewusst, weil sie durch die Pubertät so durcheinandergeschüttelt und verunsichert werden, dass sie oft versuchen, durch Konformität nicht aus der Reihe zu fallen. Ganz wichtig dabei das Aussehen: die Klamotten, die Frisur, das Styling. Wenn man sich in diesen Bereichen zu sehr in eine Extrazone wagt, muss man auf harte Repressionen vorbereitet sein und man könnte aus der angesagten Clique ausgeschlossen werden. Eigentlich sollte es mir cringy sein, hier eine solch abgewetzte Erkenntnis zum Besten zu geben, ach, was soll’s.

Woran liegt es wohl, dass in diesem Jahr 2021 das Cringe-Sein bzw. das Cringe-Bewusstsein für die Jugend so bedeutend geworden ist? Kann einen das wundern? Hat es damit zu tun, dass man durch die Coronamaskiererei sehr viel empfindlicher geworden ist, wenn Leute „aus der Reihe“ tanzen? Hat es damit zu tun, dass sich allerorten cringy Querdenkerei breit macht von Leuten, die Wahrheit und Fantasie nicht auseinanderhalten können? Trump hat kürzlich sein eigenes Netzwerk gegründet, mit dem Namen SOCIAL TRUTH, weil man ihm bei Facebook und Twitter das Lügenmaul verboten hat. Trump und Social Truth — das würde ich wahrhaftig als supercringy bezeichnen. Aber diesem Menschen (ist es überhaupt ein Mensch?) war noch nie etwas peinlich, der strotzt ja vor Selbstbewusstsein.

Ach, das ist ein kompliziertes Thema und jetzt weiß ich nicht mehr weiter. Verdammt cringy ist das! Die Welt ist aber auch so düster geworden. Die Viren, das Klima, die Inflation — die globalen Probleme machen einen arg ratlos. Da tut es dann schon gut, wenn sich das überlastete Hirn darauf fokussieren kann, „Peinlichkeiten“ im Alltagsleben aufzudecken und darauf hinzuweisen — eine willkommene Abwechslung von den großen Problemen unserer Zeit. Flucht ins Cringen. Deshalb ist mir dieser Blog auch überhaupt nicht cringy, denn nicht wirklich von Bedeutung.

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