BvsN-13

Fortsetzung von Blog Nr. 250

21. Februar, Dienstag, 10.30 Uhr.

Er saß an der Seepromenade in Meersburg im Café Mohler, im Glas seines Aperol Spritz funkelte das Sonnenlicht. Ein Faschingsdienstag am „Meer“ unter strahlend blauem Himmel — Gerald fühlte eine Freiheit, die er bislang nicht gekannt hatte. In seinem früheren Leben, als er noch kein Krimineller gewesen war, hätte er es sich nie gegönnt, einfach mal zum Bodensee zu fahren, um sich dort eine frische Brise um die Nase wehen zu lassen. Als selbständiger Grafiker wäre ihm das leicht möglich gewesen, aber er hatte so etwas einfach nicht getan.

Überhaupt hatte es keine Kicks in seiner Existenz gegeben — bis jemand die arme Frau Landauer erschlagen hatte. Er war es natürlich nicht gewesen, wieso hätte er das tun sollen? Er mochte die alte Dame und ihre Neigung zu Schwarzwälder Kirschtorte. Sie wusste jede Menge lustiger Anekdoten aus ihrer Zeit als Filmstar. Aber dieser widerliche Kommissar Bronzo hatte sich irgendwie auf ihn eingeschossen und ihn aufs Absurdeste angegriffen.

Als Bronzo in seiner „good cop, bad cop“-Rolle so weit gegangen war, dass er Gerald sogar gedroht hatte, ihm den Finger abzuschneiden, schien es, als hätte man ihn in einen Kriminalfilm hineinkatapultiert, denn das Verhör war so brutal gewesen wie eine krude Tarantino-Szene — für Gerald schockierend und traumatisierend. Der Sadist Bronzo hatte seine Rolle überzeugend und offensichtlich mit Genuss gespielt. Erstaunlicherweise war aber wegen diesem krassen Erlebnis bei Gerald auch ein Schalter umgelegt worden: Er konnte nun plötzlich Dinge tun, die vorher für ihn unmöglich gewesen wären — mit Improvisation!

Auch deshalb hatte er den Mut gehabt, dem Kommissar ein paar Tage später das Paket mit dem Finger zu schicken. Um den Thriller fortzusetzen. Endlich raus aus dem öden Normaloleben! Gerald musste unwillkürlich kichern, als er an die Ereignisse der letzten Tage dachte. Die Betäubung von Bronzo und Kreitmayr, der Autoklau, der Besuch bei Evi: Ziemlich geil war das alles gewesen! Um das Spiel am Laufen zu halten, hatte er für seinen „Freund“ gleich noch eine zweite Lieferung in Planung gehabt — das würde Bronzo erneut ein wenig antriggern.

Nämlich hatte Gerald am Freitagnachmittag auf einem Autobahnrastplatz vor Landsberg einen Brummifahrer gefragt, ob ihm dieser den Gefallen tun könne, das Kuvert mit dem speziellen Inhalt dort einzuwerfen, wo er hinfahre. Er würde ihm dafür zehn Euro geben. Der Brummifahrer, ein dicker Raucher, machte kein großes Geschiss deswegen. Er nahm den Geldschein und nuschelte: »Kann ich heute abend machen, in Mainz. Dort liefere ich aus. Haben Sie was zu vertuschen?«

»Nein, gar nicht. Ich möchte mir nur einen Faschingsscherz mit meinem alten Münchner Freund Luis machen, der wird sich fragen, was ich in Mainz treibe.« Gerald lachte.

Der Typ brummte: »Dort oben heißt das Fastnacht, die drehen da völlig durch.« Dann stieg er mit dem Kuvert in seinen Laster und startete nordwärts.

Gerald stellte sich vor, wie der Kommissar vor Wut ausrasten und das Parfümpröbchen aus Mainz an die Wand werfen würde. Wenn die Post schnell gewesen war, könnte das genau heute passieren. Klasse! Er war nach dem Intermezzo auf dem Rastplatz Landsberg weiter in Richtung Baden-Württemberg gedüst, schließlich war er hier gelandet, am Bodensee. Als Jugendlicher hatte er in der Gegend mal eine Brieffreundin gehabt, er konnte sich nicht mehr an den Namen erinnern. Egal, Meersburg war jedenfalls ein schöner Ort. Und im Februar auch touristisch nicht überlaufen.

Gerald hatte sich in der Pension Rothemund ein Zimmer genommen, sehr günstig für 36 Euro die Nacht — als Cornelius Birkl. Ohne Smartphone mit Internet war eine Pension nicht leicht zu finden. In seiner Zeit als Grafiker war er süchtig nach seinem iPhone gewesen, ständig las er unwichtige Mitteilungen auf Facebook, ständig warf er Blicke in die Tagesschau-App oder erstellte Playlists auf Spotify. Nun war Gerald gezwungen, das Gerät ausgeschaltet zu lassen, damit man ihn nicht würde orten können. Eigentlich eine Zwangsmaßnahme, aber zugleich irgendwie auch ein enormer Gewinn an Freiheitsgefühl und eine Rückbesinnung auf Zeiten, in welcher Smartphones noch nicht erfunden gewesen waren. Es war umständlich, aber es ging tatsächlich auch ohne. Bis jetzt. Notfalls würde er ein Internet-Café aufsuchen, für wichtige Recherchen. Wenn es überhaupt noch Internet-Cafés gab! Nein, er brauchte doch einfach nur eine Prepaidkarte, er hatte an diese allereinfachste Lösung bisher nicht gedacht!

Nun war er also seit Freitagabend hier und spielte „Ferien am Meer“. Er hatte sich die letzten Tage in der Gegend umgeschaut. Am Samstag brachte ihn ein Schiff auf die Insel Mainau. Eigentlich bekannt als Blumenparadies, war um diese Zeit in botanischer Hinsicht noch nicht viel geboten, außer Schneeglöckchen und Märzenbecher. Der Februarvorteil war, dass wirklich wenig Touristen unterwegs waren. Am Sonntag hatte er sich die berühmten Pfahlbauten in Unteruhldingen angesehen — das älteste archäologische Freilichtmuseum Deutschlands. Eine kleine Zeitreise 10.000 Jahre zurück in die Stein- und Bronzezeit. Am Rosenmontag, also gestern, war Wellness angesagt gewesen: die von Frau Rothemund sehr empfohlenen Meersburg Therme. Im Pool plantschen, in der Saunawelt schwitzen und im Ruheraum darüber sinnieren, wie es in den  nächsten Tagen weitergehen sollte mit Herrn Neumann, dem flüchtigen Kriminellen. Langsam wurde es ihm hier nämlich langweilig. Er plante, vielleicht über Stein am Rhein ins Ausland zu fahren. Noch etwas mehr Abstand zu Bronzo konnte keinesfalls schaden. Der Kommissar setzte bestimmt alles daran, ihm schnellstens auf die Spur zu kommen.

»Darf ich Ihnen noch einen Aperol Spritz bringen?« Die Kellnerin hatte einen süßen schweizerdeutschen Akzent. Klar, die Schweiz war gleich gegenüber, auf der anderen Seite vom See.

»Ja, sehr gerne. Heute ist ja auch ein spritziger Tag.« Gerald lächelte sie an.

»Kommt sofort.« Und schon war sie wieder fort.

Er war vielleicht etwas zu alt für diese Frau, aber in seinem neuen Leben galten nun andere Maßstäbe. Er fühlte sich frei zu sagen und zu tun, was immer ihm beliebte. Er war ein Desperado geworden, der sich nahm, was sich ihm bot. Irgendwann würde ihm das Geld ausgehen. Er hatte noch nicht versucht, mit Cornelius’ EC-Karte zu bezahlen, er kannte ja die Geheimzahl nicht. Manche Leute schreiben sie sich auf, sogar irgendwo in der Brieftasche, versteckt. Das hatte Gerald mal selbst so gemacht, weil er Probleme mit dem Merken von vierstelligen Zahlen gehabt hatte. Aber auch wenn er Cornelius’ Geheimzahl gewusst hätte — heutzutage ließ sich doch alles orten. Wahrscheinlich hatte Evis Mann die Karte auch schon sperren lassen, logisch. Daher galt für Gerald: Nur Bares ist Wahres!

Als die hübsche Schweizerin wiederkam, mit einem zweiten Glas seines Lieblingsgetränks, sagte Gerald zu ihr: »Ich wohne in der Pension Rothemund. Haben Sie Lust, mich heute Abend zu besuchen?«

Sie riss die Augen auf, als hätte man ihr eine Ohrfeige verpasst. »Für wen halten Sie mich, sind Sie verrückt?«

»Oh, bitte, entschuldigen Sie meine Frechheit. Ich dachte nur, weil heute so ein frühlingshafter Tag ist und sie so einen entzückenden Dialekt haben. Ich weiß nicht, irgendwie hat mich das Sonnenfunkeln im Aperol inspiriert. Ich dachte spontan, man könnte diesen schönen Tag noch schöner beenden.«

Sie schien irritiert, wurde rot im Gesicht, drehte sich um und ging. Eine solche Ansprache hätte sich Gerald früher nie erlaubt, aber als Desperado war ihm das möglich. Sofort kam ihm das Lied von den Eagles in den Sinn. Er nippte am Getränk, lehnte sich zurück, machte „Augenpflege“ und ließ sich von der Sonne das Gesicht wärmen. Er lebte im Jetzt, die Zukunft war später. Er würde sie auf sich zukommen lassen, ohne Ängstlichkeiten. Zumindest war das aktuell sein Plan. Bisher hatte alles funktioniert, als sei es von langer Hand geplant worden.

Gerald wollte längst bezahlen, aber die Kellnerin kam nicht mehr, er hatte sie anscheinend total verschreckt. Also ging Gerald ins Lokal hinein, an den Tresen und beglich die Rechnung beim Wirt. Etwas weiter hinten im Café sah er die Schweizerin. Sie schien ihn zu beobachten. Als Gerald hinausging und sich anschickte, unter der goldenen Spätnachmittagssonne am Seeufer zu flanieren, holte sie ihn auf der Terrasse des Cafés ein und drückte ihm wortlos einen kleinen Zettel in die Hand. Dann war sie gleich wieder weg. Auf dem Zettel war in kleiner Handschrift eine Mobile-Nummer gekrakelt, mit einem Smiley dahinter. Nicht zu fassen! Wirklich nicht zu fassen! Gerald lief es wohlig den Rücken hinunter, als er auf die glitzernde Seeoberfläche blickte. Er hörte
eine alte Melodie in seinem Kopf, es war die Titelmusik aus dem 60er Jahre-TV-Vierteiler einer Verfilmung über Robinson Crusoe — diese Melodie erklang immer im Vorspann, bei einer Szene mit Meeresbrandung. Gerald liebte es, wenn sie ihm in den Sinn kam.

Er war in Versuchung, seine neue Bekanntschaft anzurufen. Dazu hätte er aber sein Handy einschalten müssen. Ortungsgefahr! Es war heute leider schon zu spät, eine Prepaidkarte zu kaufen, abgesehen davon war ja Faschingsdienstag! Öffentliche Telefonzellen gab es keine mehr, weil inzwischen auch die altmodischsten Leute ein mobiles Telefon besaßen. Gerald ging in eine Bar und fragte, ob er auf dem Festnetzapparat ein Telefonat führen dürfe. Er wählte die Nummer auf dem Zettel, es war nur der Anrufbeantworter dran, sie arbeitete vermutlich noch.

»Hi, hier ist Gerald, der mit den beiden Aperols. Freut mich sehr! Wir könnten doch am Abend ein wenig spazierengehen, am See. Wollen wir uns um 20 Uhr vor dem Café Mohler treffen? Ich werde jedenfalls da sein. Du kannst mich leider nicht mehr erreichen, weil mein Handy scheinbar hinüber ist. Wäre schön, wenn es klappt. Bis dann, Gerald.«

Fortsetzung folgt

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Abbildung: Mabel Amber auf Pixabay