Liebe Leser,
kürzlich ereignete sich in meinem Domizil eine Szene, in welcher Pia als Hauptakteurin involviert war. Wir wollten ein wenig Radfahren, und da draußen ein leicht kühler Wind seine Schwingen schwang, hatte Pia die hervorragende Idee, sich ein leichtes Strickjäckchen überzuziehen. Ich habe für solche Fälle eine Windjacke in einem solch knalligen Blauton, dass Unvorbereitete davon leicht einen Farbschock bekommen könnten. Aber darum geht es hier nicht: zurück zum Strickjäckchen.
Sobald Pia besagtes Strickjäckchen (was für ein zierliches Wort!) von der Garderobe nahm, wo es allzeit bereit lagert, begann sie der unangenehme Schrecken heimzusuchen. Sie fand zwei winzig kleine Löcher im Strickstoff! Ich hätte diese Löchlein niemals entdeckt, aber Frauen haben einen fabelhaften Instinkt dafür, mit ihren sensiblen Damenfingern zur rechten Zeit an die richtige Stoffstelle zu gelangen.
Zwei kleine Löcher in einer seidenweißen Bluse können wie zwei unübersehbare Black Holes im modischen Accessoire sein. Jedoch bei einer anthrazitfarbenen Strickjacke sind derlei Löchleins ohne Mikroskop kaum sichtbar — wie zwei Nissen im mächtig gelockten Haarschopf eines Models für Wella Shampoo. Trotzdem: Der Schrecken kann dadurch nicht gemildert werden. Zinkl in seiner grobschlächtigen bayerischen Art beurteilte die Situation mit folgenden Worten: »Des macht doch nix, des sigt koa Mensch. Ziags o und dua ned lang rum.«
Aber dann kam ihm ein weiterer Gedanke, den er in belehrender Art dazuformulieren musste. Auch auf Bayerisch, aber weil das für den Leser eine Anstrengung wäre, hier ins Hochdeutsche translatiert: »Schau, Pia, seit geraumer Zeit laufen draußen die Leute mit modischen Löchern in den Jeans herum, die über die Jahre immer größer wurden. Das ist inzwischen nicht mehr nur noch angesagt, sondern absoluter Standard geworden. Aber garantiert regen sich die gleichen Jeanslöcher tragenden Damen und Herren auf, wenn sie im Pullover kleine, kaum sichtbare Leerstellen ausfindig machen. Das ist doch absurd! Aber da sieht man: Loch in der Klamotte ist nicht gleich Loch in der Klamotte! Das eine ist Mode, das andere ist kaputt.«
Pia hat meine Proklamation gehört, hat das irgendwie nachvollziehen können, aber ihre Strickjacke trotzdem mit leidender Miene angezogen, als wäre es eine Zumutung und als hätte ich sie dazu gezwungen, asozial zu wirken.
Ich gebe ja zu: Mich stört es auch, wenn auf meinem weißen T-Shirt eine zerquetschte Minifliege einen graugrünen Fleck hinterlässt. Das ist lächerlich, aber es ist mir ein kleiner Dorn im Auge. Dafür weigere ich mich aber (noch) konsequent, Jeanshosen zu erwerben, die absichtlich aus modischen Gründen zerlöchert und teilweise absichtlich wieder unprofessionell (aus modischen Gründen) zusammengeflickt worden sind.
Ich vermute, mir ist die Intention klar, welche dahintersteckt, wenn man sich eine neue Jeans kauft, die aussieht, als wäre sie seit langer Zeit täglich getragen und immer wieder schlecht oder gar nicht repariert worden. Es mag bedeuten: Ein langes Leben hat das für die harte Arbeit geschaffene Beinkleid geformt, aber nicht unbrauchbar gemacht — das Leben hinterlässt halt mal Spuren, dazu steht man, darauf ist man stolz, man trägt die Spuren des Lebens mit Würde. Vor drei Jahren ist man mit den Beinen in einen argen Stacheldraht gekommen und hat die Stoffbereiche um die Knie komplett verloren. Macht nichts! Damit lässt sich doch leben! Welcher Wert steckt schon in immer wieder neuen Hosen! Nein, man steht zu den schönen alten Dingen, die es noch gibt.
Das ist eine ehrenwerte Einstellung, aber tatsächlich wahrlich unwahr, denn diese Jeans sind für teures Geld NEU gekauft worden. Nix da harte Arbeit und Spuren des Lebens. Alles Schein. Und außerdem ist es ganz offensichtlicher Schein: Jeder weiß ja, dass die beschädigte Jeans frisch gekauft worden ist. Ein erneuter Beweis dafür, dass der Mensch des Wahnsinns nicht nur mächtig ist, sondern von ihm auch völlig kontrolliert wird.
Gerne würde ich wissen, wie eine tatsächlich fünfzig Jahre alte, täglich getragene Jeans aussieht, aber ich habe selbst nie so lange dieselbe Hose besessen. Und jetzt ist es zu spät, denn 108 werde ich vermutlich nicht werden. Aber ich könnte evtl. noch testen, wie eine dreißig Jahre alte Jeans aussieht. Dann bin ich 88 und vielleicht gibt es dann auch noch diesen Blog. Folge Nr. 1.590 oder so. Ich werde darüber berichten und ein Foto einstellen. Aber wahrscheinlich sind bis dahin meine Leser fast alle schon gestorben, das ist auch irgendwie witzlos.
Fazit: Liebe Leute, regt euch doch nicht auf über kleine Löchleins an Strickjäckchen und Blusen und Schuhen und Pelzjacken und BHs und Unterhosen und Stringtangas. Sagt euch besser: Das Geld für eine Reparatur oder ein neues Stück spare ich mir – ich trage die Defekte selbstbewusst, weil sie bedeuten, dass das harte Leben halt seine Spuren hinterlassen muss. Hat was mit Selbstbewusstsein zu tun!
Und wenn ich mal wieder auf den desolaten Zustand meiner Kleidungsstücke hingewiesen werde (von Pia, von meiner Mutter, von meinen Töchtern, nie von männlichen Freunden), verweise ich meinerseits auf Blog Nr. 031. Gell? Herzliche Grüße vom Zinkl, der um gute Ratschläge selten verlegen ist.
PS:
Als Grafik-Designer ist mir absolut klar, dass Zerrissenes, Zerfetztes, Zerfallenes, Zerlöchertes große optische Reize bietet. Ich habe früher mit Leidenschaft alte Werbeplakate fotografiert, die oftmals überklebt und teilweise zerrissen worden sind und sich im Laufe ihres Hinsterbens in sehr spannende Collagen verwandelt haben. Auch marode Herbstblätter sehen oft interessanter aus als frische Sommerblätter. Wenn man die erstaunlich vielgestaltigen, teilweise sehr hübschen Destruktionen an Kleidungsstücken unter diesem Aspekt der abstrakten Kunst betrachten kann, finde ich das eine großartige Sache.
PPS Juni 2018:
Habe mir für den Sommer bei C&A eine Short-Jeans gekauft, die ein paar Deko-Löcher und viele lose Fäden aufweist. Man muss seine klassische Grundhaltung ja nicht zu sehr hochstilisieren; außerdem gab es keine Short-Jeans OHNE Dekolöcher zu erwerben. Ich habe meinen Frieden damit gemacht. Sehe nun auch gleich um 20 Jahre jünger aus, verrückte Sache! Bin schon von fünf jungen Leuten angesprochen worden, was ich für eine geile Jeans anhätte. Nicht zu fassen!
Mein, leider zwischenzeitlich verstorbener, Schneidermeister Voigts aus Bremen-Oberneuland (der auch für die Fräcke bei dem berühmten Bremer Schaffermahl zuständig war) sagte mal zu mir, als ich ihn auf ein Mottenloch in meinem Cashmere-Mantel hinwies:
„Tragen Sie es mit Würde“ – ein wunderbarer Ratschlag !
Gruß, D.
Von meinem iPad gesendet. SophistiCat Music – Dirk Busch
http://www.dirk-busch.de
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Auch mein so geliebtes schwarzes Wollkleid besitzt derzeit zwei Mottenlöchlein
– meine damische Eitelkeit überlegt schon …. eine neckische Rosette an dieser Stelle anzubringen … es wird eine völlig neue Optik in ihrer Schönheit geboren 😉 *zwinker*
– auch unliebsame Lebenslöchlein können geschickt kaschiert werden indem man ihnen einfach keine Beachtung mehr schenkt … wie du es in Deiner Definition bereits erwähntest
lieb und nett grüß
die zuzaly 🙂
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Also eigentlich bedeuten zerschlissene, zerlöcherte Jeans nicht, dass das Leben harte Spuren hinterlassen hat – sondern sind eher Ausdruck dessen, nicht angepasst und dadurch „cooler“ als die anderen zu sein.
Auch hier: Loch ist nicht gleich Loch. Man zahlt teuer für die Art des Loches. Meine erste zerlöcherte Jeans habe ich von Mama bekommen. Anlass war mein erstes Date mit meinem ersten Freund. Sie hat mehr Löcher als Hose und hat damals fast 300 Euro gekostet.
Besonders gern habe ich sie im Lateinunterricht zur Schulzeit getragen (zusammen mit meiner Freundin, die eine ähnliche Hose hatte), weil uns immer mal klar war, dass die Unterrichtsstunde entfallen würde. Mein Lehrer musste sich jedesmal so über die Löcher aufregen, dass er uns eine Stunde lang eine Predigt über ordentliche Kleidung hielt.
Die Hose ist noch heute wertvoller Bestandteil in meinem Kleiderschrank und ich halte sie in Ehren.
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