Liebe Leser,
der Zinkl hat das freudvolle Musikhören- und sammeln in einer Zeit für sich entdeckt, als Tonträger noch sehr verletzliche Wesen waren. Kaum hatte man eine Langspielplatte mehr oder weniger vorsichtig aus der weißen Innenhülle gezogen, war auch schon ein Kratzer drin, den man hören konnte (und der von den Komponisten nicht vorgesehen war). Wenn man Hits aus dem Radio auf Musikkassetten verewigt hatte, gab es irgendwann dumpfe Stellen oder Geleier oder schlimmstenfalls irreparablen Bandsalat.
Ein penibler Archivar, der großartige Musik für künftige Zeiten aufbewahren wollte (natürlich in einer Tonqualität, die dem Original entsprach), hatte es damals schwer. Genauer gesagt: Es war in den 70er Jahren mit ziemlich eingeschränktem Budget völlig unmöglich. Das war schlimm — wenn man auch kleinste Dreckspartikel als bösartige Viren betrachtete, die sich mit der Zeit ins Vinyl hineinfraßen und dessen Rillenpfade immer mehr verstopften, bis das Knistern, Knastern, Knacksen und Kracksen so unangenehm wurde, als wenn man seinen Liegestuhl direkt neben die Autobahn München-Nürnberg gestellt hätte.
Die psychischen Nöte, die Zinkl deswegen heimsuchten (abgesehen von unerfüllten Sehnsüchten nach dem schönen Geschlecht), trieben ihn zu Maßnahmen, die aufwändig waren, letzten Endes aber doch sinnlos.
Einmal war in dem neuen Led Zeppelin-Doppelalbum „Physical Graffiti“ auf der dritten Schallplattenseite ein monumentaler Kratzer gleich am Anfang des Liedes „In the Light“ hineingeraten, aus unerfindlichen Gründen. Das Stück beginnt mit einem wunderbaren Synthesizersolo, der Defekt machte es zur Folter. Das Album ein zweites Mal zu kaufen, war undenkbar, es hatte 34 Deutsche Mark gekostet.
Was tat Zinkl in der Not? Er markierte den gut sichtbaren Kratzer im schwarzen Vinyl am Rand dezent mit Tippex-Flüssigkeit. Dann ließ er die Schallplatte laufen und nahm sie gleichzeitig mit dem Kassettenrecorder auf. Immer kurz, bevor die weiße Markierung die Nadel erreichte, schaltete er die Aufnahme auf Pause und eine Zehntelsekunde später, gleich nach dem Knackser, schaltete er die Aufnahme wieder auf Start. So dass der Knackser nicht aufs Band kommen konnte.
Das war eine mühevolle Arbeit über viele Vinylumdrehungen und sie erforderte sicher eine Stunde höchster Konzentration. Das Ergebnis war so gut, wie es werden konnte. Das Synthesizerintro war nun zwar ohne Knackser, aber es lief mit ruckartigen Sprüngen. Im Grunde seines Herzens wusste Zinkl, dass das immer noch völlig inakzeptabel war. „In the Light“ (natürlich ein sensationelles Stück) war für immer verdorben — so wie es ein mit grüngraupelzigem Schimmel überzogenes Schnitzel ist.
Diese war nur eine der vielen Maßnahmen, die Zinkl versuchte, um Musik in seinem Urzustand zu erhalten. Man könnte hier weitere beschreiben, aber nur verrückte Fetischisten würden das gerne lesen. Weil man mir schon einige Male vorgeworfen hat, meine Blogs seien zu lang, erspare ich uns das. Man schreibe mir jedoch, wenn trotzdem an weiteren musikerhaltenden Maßnahmen Interesse besteht: Dann gibt es einen Sonderblog für Freaks (den ich liebend gerne verfassen würde).
Als Anfang der achtziger Jahre die Compact Disc auf den Markt kam, war das die Erlösung all dieser Sorgen und Nöte. Es war, als wäre der Heiland erneut auf die Welt gekommen, um sie endgültig zu retten. Die CDs waren anfangs sehr teuer, aber ein wahrer Archivar konnte darauf keine Rücksicht nehmen. Mein erster digitaler Tonträger bot die zweite zweite Sinfonie von Johannes Brahms. Leonard Bernstein dirigierte die Wiener Philharmoniker — diese CD ist auch nach 44 Jahren klanglich noch wie neu: eines der großen Wunder dieser Welt!
In den 90er Jahren war die Vinyl-Schallplatte so gut wie ausgestorben. Und aus meiner (damaligen) Sicht völlig zu Recht. Es war völlig unbrauchbare Gerätschaft, um Musik dauerhaft zu genießen. Wie ein laut schallendes hässliches Hohngelächter kam es mir vor, als irgendwelche Musikproduzenten in ihre neue HipHopRap-Musik aus Gründen der coolen Nostalgie MIT ABSICHT Knistern und Kratzen in die Aufnahmen einbauten (die natürlich nur auf CD erschienen). Dafür hatte der kleine Spießer Zinkl so wenig Verständnis, als wenn man auf einen Pfannkuchen pieseln würde (man entschuldige diesen ekligen, aber zutreffenden Vergleich). Nostalgie ja, aber doch nicht so!
Dieses Thema wird fortgesetzt.