Liebe Leser,
als ich eine Decade alt war, interessierte ich mich für Weltraumgeschichten. Es gab 1970 aber kein Internet, und weder mein Vater (der nur die Bild-Zeitung las) noch meine Mutter (die den Gong las) hatten irgendein Ahnung davon. Die großen Science Fiction-Autoren wie Isaac Asimov, Robert A. Heinlein, Arthur C. Clarke oder Philip K. Dick waren den Zinkls so fern wie der Andromedanebel oder die Große Magellansche Wolke. Markt Schwabener Provinz halt, keinerlei Intellektualität zu finden.
Es gab einen winzigen Zeitschriftenladen, die Inhaber hießen Bruckner, so wie der Komponist. Die hatten sogar eine Leihbücherei, bestehend aus zwei Holzregalen mit diversen vermuffelten Werken. Der kleine Zinkl hatte sich da auf bruckner’sche Empfehlung schon mal drei Zomba-Bücher ausgeliehen. Zomba war so eine Art jugendlicher Tarzan, der im afrikanischen Urwald bei irgendwelchen Katarakten Abenteuer erlebte.
Als meine Mama mal wieder in der Markt Schwabener „Innenstadt“ Besorgungen machen musste, trug ich ihr auf: Bring mir eine Weltraumgeschichte mit! Das tat meine Mama, denn sie war eine Gute. Ich bekam von ihr: Perry Rhodan, 2. Auflage, Heft Nr. 232, „Die Zeitfalle“. Auf dem Titelseiten-Gemälde sah man eine als Astronaut angezogene Mischung aus Biber und Maus, hinter welcher ein Planet rotglühend explodierte. Das war meine allererste Begegnung mit der Perry Rhodan-Serie und ein Einstieg in ein gewaltiges Universum der Fantasie und militärisch eingefärbter Science Fiction.
Als kleiner Bub verstand ich anfangs nicht viel davon, zumal diese Serie in Zyklen aufgebaut ist. Das bedeutet: Ein Handlungszyklus geht beispielsweise von Heft 200 bis 300 und jede Woche erscheint ein neues 65-seitiges Werk, um die große Geschichte fortzusetzen. Ich musste in die Handlung bei Heft 232 einsteigen, was mich bekümmerte. Aber 1970 so was wie einen Bestellservice für ältere Hefte: Forget it.
Die Lektüre hat mich fasziniert und meine Mama auch, denn sie las PERRY RHODAN zusammen mit mir. Deshalb pilgerte ich nun jede Woche einmal zum Bruckner, um die nächste Ausgabe zu holen. Die Titelseitenbilder fand ich einfach hinreißend. Super, wunderbar, gruselig, befremdlich, klasse. Die Geschichten waren nicht immer spannend, aber es wurden jede Menge bizarre Aliens vorgestellt, es gab viel kriegerische Action und der Humor kam auch nicht zu kurz.
Der Mausbiber Gucky galt als eine wichtige Hauptperson — der Multimutant vereinte die drei wichtigsten Fähigkeiten eines höchst außergewöhnlichen Außerirdischen in sich: Telepathie, Telekinese und Teleportation. Mehr geht nicht. Und er war immer zu Späßen aufgelegt. Respekt hatte er nur vor Perry Rhodan, der Lichtgestalt — dieser war noch souveräner als Franz Beckenbauer und völlig unbestechlich. Perry und Gucky sind Figuren der Serie, die nie sterben werden, sie sind mittlerweile mehrere tausend Jahre alt (kein Scherz!). Sie haben alles schon erlebt, wirklich alles.
Hier sollte ich nun das Konzept der Perry Rhodan-Serie darlegen, aber das ist so einfach nicht. Dafür bräuchte ich drei ausführliche Blogs. Das liest ja keiner von meinen Lesern. Aber die Interessierten finden auf „perrypedia.proc.org“ eine unglaublich umfangreiche und bis ins Detail genaue Dokumentation über diese größte in Fortsetzungen geschaffene Literatur der Welt, die Anfang der sechziger Jahre begonnen wurde und seitdem existiert. Autoren der Serie wurden während dieser Zeit geboren und sind gestorben.
Meine Mama und ich lasen die Hefte 232 bis 265, 2. Auflage. Danach Heft 500 bis 620, 1. Auflage. Danach Heft 1 bis 199, 3. Auflage. Danach jahrelange Abstinenz. Danach die Perry Rhodan-Sammelbände — in zusammengefasster Form die Hefte 300 bis 499. Danach Heft 700 bis 867, gemischte Auflagen (übers Internet gekauft). Danach jahrelange Abstinenz. Danach Heft 1.900 bis 2.299, 1. Auflage. Danach Schluss bis heute — die Sucht hat mich seit 13 Jahren nicht mehr heimgesucht.
Ich kann also ein klein wenig als Fachmann bezeichnet werden, auch wenn von mir das gigantische Epos nie durchgängig geschafft wurde. Aber es lässt sich ausrechnen, dass ich mindestens 61.000 Seiten Perry Rhodan-Literatur gelesen habe, innerhalb eines Zeitraums von 35 Jahren. Kann man seine Freizeit sinnvoller gestalten?
Aktuell gibt es das Heft 2.975 (1. Auflage), es sind also seit Heft Nr. 1 insgesamt 178.500 Seiten geschrieben worden. Und da sind nicht die Nebenserie „Atlan“ und die unzähligen Taschenbücher mitgerechnet.
Natürlich ist es Trivialliteratur ohne Substanz von Wert, wird der Günter Grass- und Tolstoi-Leser mit Recht behaupten — und vor allem nicht mal unbedingt spannender Lesestoff. Um einen Vergleich zu wagen: Karl May beschrieb ausführlichst, wie Protagonisten und Landstriche aussahen — in den Perry Rhodan-Heften brachte man immer wieder mal seitenlange Betriebsanleitungen von unglaublicher und natürlich fiktiver Zukunftstechnologie. Beides ließ mich arg gähnen.
Aber Perry und Co. waren halt meine zweite und wesentlich interessantere Familie — und den großen Erzählbogen über die Jahrtausende fand ich faszinierend. Es ist eben eine alternative Chronik über die Menschheit in einer völlig unwahrscheinlichen Zukunft. Übrigens beginnt die Handlung im Jahre 1971 (Heft 1), das war für die Autoren bereits zehn Jahre in der Zukunft, denn sie legten mit der Serie 1961 los.
Auch heute noch kenne ich zig Namen aus der Serie auswendig und kann die Handlungsstränge frei erzählen, aus den diversen Zyklen, die ich gelesen habe. Ich kann Vorträge halten über Perry Rhodan, ich kann Unwissende stundenlang einweihen und unterhalten. Ich weiß den Durchmesser des Ultraschlachtschiffs MARCO POLO: nämlich 3.500 Meter. Ich weiß, wer OLD MAN ist. Ich kenne den Supermutanten Ribald Corello und den Oberst der Solaren Flotte Joaquin Manuel Cascal. Mir ist der Haluter Icho Tolot wohlbekannt. Und vor allem weiß ich, wer „ES“ ist!
Die Ehefrauen von Perry Rhodan kann ich allerdings nicht komplett in der richtigen Reihenfolge aufzählen. Thora war auf jeden Fall die erste, dann kam Mory Rhodan-Abro und irgendwann Mondra Diamond. Nicht so wichtig, die Frauen in der Serie — doch sie haben sich seit den sechziger Jahren freilich emanzipiert, die Autoren gehen mit der Zeit.
Man muss nicht glauben, dass ich für diesen Artikel Perrypedia gebraucht habe! Brauchte ich nicht! Ich habe das in meinem Leben alles freiwillig und ganz nebenbei gelernt. Und das ist Wissen, das ich behalten werde, bis ich sterbe. Ist das sinnloser, als wenn man Goethes Faust Teil 1 und Teil 2 auswendig aufsagen kann? Mag sein, aber wer will darüber richten?
Manchmal weine ich innerlich, weil ich bei dem Epos nicht von Anfang an dabei sein konnte und stets dabeigeblieben bin. Aber dafür müsste man inzwischen 70 Jahre alt sein und sich literarisch nie wirklich weiterentwickelt haben — beides kann ich nicht behaupten, denn ich habe mich vor geraumer Zeit sogar durch Dostojewskis „Schuld und Sühne“ gequält.
Bald erzähle ich, wer Perry Rhodan überhaupt ist, und wie er Großadministrator des Solaren Imperiums werden konnte. Freut euch darauf — ein solch ultrakonzentrierter Einblick in die längste Geschichte der Welt ist woanders schwer zu finden.