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Liebe Leser,

dies ist ein Reisebericht über einen Wochenendtrip in die ehemalige DDR. Unternommen wurde er von einem Trio, nämlich meiner Liebsten Claudia, meinem guten alten Kameraden Carsten — und meiner Wenigkeit. Zweck der Unternehmung war die Beschaffung erfrischender Eindrücke, größtmöglichen Vergnügens und: Man muss auch mal raus aus Bayern. Muss man unbedingt.

Reichenbach liegt ungefähr 50 km nördlich der einstmals innerdeutschen Grenze — wer es weitere 130 km nicht bis Dresden schafft, kann sich dort niederlassen und bei Bedarf höchst günstig gewerbliche Räume anmieten. Die Auflösung der Deutschen Demokratischen Republik ist zwar schon 30 Jahre her, aber beispielsweise hier, in Reichenbach, kann man der Weltgewandtheit der Provinz dieser Republik noch ein wenig nachspüren, es ist eine durchaus andere Welt, die uns Münchner stimmungsvoll umflort.

Wie kommt man dazu, in diesen befremdlichen Ort zu fahren, wo einem am windigen Märzsamstagnachmittag am menschenleeren Marktplatz Tumbleweeds um die Beine wirbeln wie in einer verlassenen Westernstadt in Arizona? Wo in manch schlierigen Schaufenstern grindige Artefakte à la Joseph Beuys ausgestellt sind, die einem Bayern weniger nostalgische Gefühle entlocken als dies vielleicht bei so manchem alten Sachsen der Fall sein mag. Wo sich einst herrschaftliche Wir-sind-reich-Villen immer noch widerspenstig dagegen wehren, ihr dahinbröselndes Siechtum durch Sanierungen zu beenden.

Nämlich weil es in Reichenbach den „Bergkeller“ gibt, eine äußerlich recht profane Musikkneipe, in Besitz und unter Führung eines gewissen Uwe Treitinger. Treitinger schätzt gute Rockmusik live über alles, und er fing vor 25 Jahren an, Bands einzuladen, für Konzerte bei sich zuhause und natürlich für geneigtes Publikum.

Man muss dort gewesen sein, um es zu fassen, dass seitdem in einem nicht mal 100 qm großen Gastraum mit nostalgisch dekorierter Holzvertäfelung und fünfzigjähriger Schanktheke internationale Größen wie Carl Palmer (ELP), Martin Barre (Jethro Tull), Don Airey (Deep Purple), Ken Hensley (Uriah Heep), Terry Bozzio (Frank Zappa, U.K.) und noch ganz viele andere Weltberühmtheiten — in ihrem zugegeben fortgeschrittenen Alter — auf geringstmöglichem Platz Konzerte zum Besten gegeben haben.

Der von weit her angereiste Zuschauer braucht — wenn es ihm gelingt, sich ganz vorne zu platzieren — nur den Arm auszustrecken, dann könnte er dem Sänger der Band das Mikro entreißen oder dem Gitarristen ins Saitenspiel hineinlangen. Claudia, Carsten und Zinkl hatten dies natürlich nicht im Sinne, aber sie wollten am 16. März aufmerksam der italienischen Band „The Watch“ lauschen, welche vom Treitinger eingeladen worden war, um das legendäre Doppelalbum „Peter Gabriel Plays Live“ zu zelebrieren.

Vor Konzertbeginn saßen die Musiker noch speisend in einer Ecke des „Prog-Wohnzimmers“ — der Tisch war gedeckt mit gutbürgerlichen Gerichten von Treitingers fürsorglicher alter Mama. Gleich daneben gab es einen kleinen Fanshop mit CDs und T-Shirts. Über hundert begeisterte alte Männer und eine Handvoll nur ein wenig jüngere Damen quetschten sich in den verbleibenden Raum und warteten geduldig, bis sich die fünf gesättigten Italiener in die gegenüberliegende Zimmerecke zu ihren Instrumenten begaben, um dort mit großer Professionalität und begeisternder Spielfreude loszurocken, dass es eine wahre Wucht war.

Als die Band dann am Ende auch noch Genesis’ „The Lamb Lies Down On Broadway“, „Back in N.Y.C.“ und „In The Cage“ brachten, war es um Zinkl restlos geschehen, ihm kamen die Tränen vor Wohlgenuss und Rührung. Das Synthesizer-Solo von „In the Cage“ war der absolute Bringer, alleine diese Minute Live-Musik lohnte die 340 km-Anfahrt für ihn. Claudia verliebte sich in den schönen italienischen Keyboarder Valerio, Carsten guckte hochinteressiert dem Gitarristen Giorgio auf die nur einen Meter entfernten virtuosen Finger, um zu prüfen, mit welcher Technik er die Zugabe „Solsbury Hill“ meisterte.

Dazwischen bot der euphorisierte Uwe Treitinger, losgelöst von jeglichen Modediktaten aus den letzten drei Jahrzehnten, launige Ansagen in einem Dialekt, bei dem sich dem Münchner die Zehennägel aufstellen, aber Respekt, Respekt, Respekt: Ein solch (kleines) Etablissement auf die Beine zu stellen, in welches berühmteste Musiker gerne kommen, weil sie dort freundschaftlich empfangen und familiär bewirtet werden und wissen, dass ihnen Hardcore-Fans lauschen, das ist ganz groß!

Diese Art von Hochkultur gibt es nirgendwo sonst in Deutschland — und der Münchner Zinkl kann nur bitterlich weinen, weil es so verflucht weit ist nach Reichenbach, denn er würde sich dieses Vergnügen wirklich gerne öfters angedeihen lassen. Danke, Uwe, echt saustark! Du bist eine einzigartige und wunderbar aus der Zeit gefallene Bastion progressiver Livemusik: Nirgendwo kann man den hochverehrten Interpreten näher auf die Pelle rücken. Sooo schön.

Was gibt es sonst noch in Reichenbach?

1) Das gediegene Hotel „Meister Bär“, dessen Badezimmer die bequemsten Klobrillen besitzen, auf denen Zinkls Pobacken jemals ruhen durften. Marke „Ideal Standard“. Leider sind diese Klosetts nicht mehr erhältlich, sonst hätte ich mir eines gekauft für daheim.

2) Das Restaurant „El Greco“, welches bereits samstagsabends um 18 Uhr so ausgebucht ist, dass das Trio dort nichts zu essen bekam. Ist wahrscheinlich der einzige Grieche im Umkreis von 50 Kilometern und daher ensprechend bedrängt.

3) Das hohe „Kinderkaufhaus“, dessen bröckelnde lehmfarbene Fassade mit dem großen KK-Logo noch schaurig nach DDR müffelt.

4) Einen unschönen jungen Reichenbacher, der am Sonntagvormittag über sein Smartphone die ansonsten völlig ausgestorbene Innenstadt mit quäkender Discomusik beschallt.

Also: Den Bergkeller vom Treitinger muss man erlebt haben, den Rest der Metropole nicht zwingend. Aber wenn sich der Münchner sein München nicht mehr leisten kann, ist es doch eine ganz hervorragende Option, sich im Vogtland in einer verfallenen Villa einzunisten. Eine Woche vorher bei „El Greco“ reservieren, dann muss man auch nicht verhungern. Und danach natürlich immer zum Bergkeller pilgern!

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