106_geduld

Liebe Leser,

vom Zinkl kann man vieles verlangen. Er ist ein äußerst geduldiger Mensch in seiner Berufstätigkeit (logisch), es ist ihm ein Anliegen, seinen Mitmenschen behilflich zu sein (gerne), er hört ihnen zu mit viel Empathie (nach Kräften), er ist auch wirklich großzügig (glaubt er) — dies alles selbstverständlich in einem überschaubarem Zeitfenster.

Aber wenn er zum xten Male einen seiner beiden roten Lieblings-Fahrradhandschuhe (aus dem Allgäuer Sportartikel-Outlet) irgendwo gedankenlos liegen lässt und hektisch danach sucht, bis dieser gnädig wieder aufzutauchen gedenkt, dann ist der Ungeduldige in ihm geneigt, sein verwirrtes Hirn ungnädigst zu verfluchen, welches ihm den Handschuh entwendet hat.

Weil nämlich eines kann Zinkl nicht ertragen: Wenn er geduldig sein muss bei Vorgängen, deren Dauer er nicht unter Kontrolle hat. Wenn er mit Töchterlein Linda zum Marienplatz fährt und sie bei Zara Shopping macht, dann ist er die Ruhe in Person: Er weiß ja, die arge Prozedur ist in einer Stunde getan, alles gut.
Wenn Zinkl jedoch unvorbereitet geduldig sein muss, dann bekommt er eine große Krise, so dass er anfängt zu hyperventilieren und (falls in greifbarer Nähe) in seine Nero assoluto-Granitküchenplatte hineinzubeißen.

Als Zinkl klein war, hatte er noch ganz viel Geduld (und ist niemals ausgerastet):

Damals, beim Zahnarzt Leo Neumayer (auch genannt „Der Schlächter von Markt Schwaben“) wurde man in die Praxis bestellt, zum Beispiel um 14 Uhr. Dran kommen tat man dann so gegen 16.30 Uhr. Dazwischen hockte man zur Untätigkeit verdammt in dem eierschalenfarbigen Wartezimmer. Aus einem winzigen beigen Lautsprecher säuselte in niedrigster Lautstärke die ganze Zeit Easy Listening-Trash des Hammondorganisten Raymond Lefevre (süßliche Instrumentalversionen von „A Whiter Shade of Pale“ und „Bridge Over Troubled Water“). Das sollte beruhigend wirken, aber es machte einem den endlosen Aufenthalt erst recht zur Nervensägerei.
Doch widerlich war vor allem das ignorante Zeitmanagement von Neumayer. Man musste es erdulden, weil man keine andere Wahl hatte. Es gab ja nur den einen Zahnarzt. Und als Kind hatte man sowieso das Maul zu halten, bzw. man hatte es nach der Warterei still aufzureißen, starr vor Grausen bei dem großen Mann, der die Zange schwang und fröhlich sagte: „Ah, den mach’ ma raus.“
Grrrrrrrrr!, wenn ich heute daran denke. Leo Neumayer lebt nicht mehr, aber sein Sohn, der genauso heißt wie der Vater und auch Dentist geworden ist, der lebt. Wie er arbeitet, weiß ich nicht. Aber heutzutage kann sich ja ein Zahnmechaniker nicht mehr aufführen wie Gott.

Jaja, das Leben ist ein einziges Wartezimmer, das muss man aushalten können. Ich dachte mir, mit den Jahren wird man erfahren und weise — und kann deshalb die kleinen Pausen des Daseins als stilles Innehalten und feines Nachspüren des vorher Erlebten begrüßen. Pah! Inzwischen weiß ich, dass das zumindest von mir nicht zu schaffen ist. Im Gegenteil: Die Ungeduld wächst mit dem Alter. Nichts kann schnell genug gehen, alles dauert und dauert und dauert.

Die roten Ampeln brauchen doppelt so lange wie früher, bis sie endlich umschalten, diese kleinen Dreckskerle.
Wenn sich das Öffnen eines pdfs am Computer eine Sekunde zu lange hinzieht, wird man nervös und fängt an Nägel zu kauen.
Wenn die Hausschuhe drei Meter entfernt liegen von ihrem für sie zugewiesenen Platz, werden sie beschimpft, weil sie keinerlei Respekt haben vor ihrem Besitzer. Wieviel Zeit es kostet, sie wieder dorthin zu befördern, wo sie hingehören!
Über die quälende whatsapp-Antworten-Warterei auf dringende private Fragen will ich hier gar nicht eingehen, dieses Thema wurde bereits in Blog 100 ausführlichst behandelt.
Grrrrrrrrr! und nochmals Grrrrrrrrr!

Ah!, denkt sich nun der Leser: Zinkl gehört in die Psychiatrie. Und zwar in die geschlossene.
Aber nein! Wenn man spürt, dass einem die Zeit davonläuft, weil man sich im letzten Lebensdrittel befindet, dann achtet man halt darauf, wofür man sie verwendet, die Zeit. Man will sie auskosten, die Zeit. Man will sich in ihr vergnügen. Aber was passiert stattdessen? Man wartet und man wartet.

Allerdings haben wir gelernt: Der Weg ist das Ziel. Man muss das Warten als willkommenen Weg sehen, der einen weiter bringt. Wer hat das gesagt? Buddha? Jesus? Letzterer bestimmt nicht, der hatte keine Geduld mit den Händlern im Tempel, der hat das Pack gleich hinausgepeitscht. Zumindest haben sich das die Evangelisten ausgedacht, was Jesus in Wirklichkeit getan hat, weiß ja kein Mensch.

Ich weiß, das Problem ist das unbedingte Wollen. Wenn man was unbedingt will und zwar sofort und vollständig, dann kann es einem nicht schnell genug gehen. Weil die Dinge aber so nicht laufen, das tun sie halt nicht, weil andere Leute unter Umständen nicht das gleiche wollen wie man selbst, darum: SOLLTE MAN GEDULDIG SEIN!
Mit Geduld geht alles besser, man wird milder, man verliert die Verbissenheit, man verliert vielleicht sogar das Ziel vor Augen und erkennt womöglich, dass das Ziel so wichtig und wertvoll gar nicht ist.

Aber Mensch!, obwohl Zinkl das alles weiß, fühlt er sich immer öfter als Wartezimmerinsasse. Ist das nicht unglaublich bescheuert? Gut, wahrscheinlich ist es einfach nur ein Zeichen für sein großes Energiepotential, sein frisches Temperament, ein Zeichen dafür, aus dem Vollen schöpfen zu wollen, und zwar SOFORT, sich nicht abzugeben wollen mit Bröseln, die Wochen dauern, bis sie gebacken sind.

Wie anfangs erwähnt, das war nicht immer so mit der mangelnden Geduld beim Zinkl. Als 16-jähriger konnte er sich stundenlang vor eine leibhaftige Paprikaschote hinhocken und diese Quadratmillimeter für Quadratmillimeter mit dem Bleistift abkopieren. Der Bub bewegte sich während dieser vierstündigen Tätigkeit keinen Millimeter vom Fleck, solange nicht, bis er die Paprikaschote komplett abgezeichnet hatte. Während dieser Zeit wurde nichts geredet und nichts getrunken. Der Bub hatte das Ziel vor Augen und akzeptierte gleichzeitig den harten und steinigen Weg zur Paprikaschotenvollendung. Er wusste nicht, wie lange es dauern würde, er tat es einfach — ohne zu murren.
Heutzutage dauert es dem Zinkl schon zu lange, eine Paprikaschote bloß aufzuschneiden, zu waschen und in Streifen zu zerteilen.

Wahrscheinlich verhält es sich so: Das komplette Kontingent Zinklgeduld, welches für ein ganzes Leben ausreichen sollte, hat der blöde Kerl als Teenager mit dem unsinnigen Abzeichnen von Gemüse komplett aufgebraucht. So dass nichts davon für das Alter übrig geblieben ist. Das hat er nun davon! Keine Altersvorsorge in Sachen Geduld betrieben. Der Schaden ist nicht mehr rückgängig zu machen.

Wer weiß Rat? Was ist zu tun? Bitte, liebe Leser, schreibt es mir!

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