137_time out

Liebe Leser,

ich habe beobachtet, dass sich Münchens Bevölkerung mittlerweile in zwei Sorten aufgeteilt hat: in die Unerschütterlichen und in die Ängstlichen. Man kann sie sehr leicht unterscheiden. Die Ängstlichen verhüllen sich um den unteren Kopfbereich, die Unerschütterlichen strecken ihr Face, so wie Gott es schuf, hinaus in die frische Luft, als gäbe es da nichts, was schädlich sein könnte.

Wenn ich eine Person der verhüllten Fraktion völlig vereinzelt herumstehen sehe oder (noch besser) in einem Auto am Steuer beobachte, befällt mich vollautomatisch ein Gefühl der Aggression auf solche Hysteriker. Dabei ist das wahrscheinlich dumm von mir, denn vielleicht sind es letztendlich ja die Unerschütterlichen, die aussterben werden, so wie es damals mit den Neandertalern passiert ist, die sich den neuen natürlichen Gegebenheiten nicht anpassen konnten.

Vor drei Wochen noch war ich Kunde in der Metzgerei Burr, Nähe Josephsplatz. Und kaufte Kalbskäse und Schinken ein. Die stark bayrische Wurstaufschneiderin jonglierte die tierische Ware mit bloßen Händen und obwohl ich wirklich keiner bin, der sich aufmandelt bei Kleinigkeiten, da war sogar ich von mir selbst angewiesen zu fragen:
„Tragen Sie keine Handschuhe in diesen Zeiten bei ihrer Tätigkeit?“
Die Unerschütterliche antwortete selbstbewusst:
„Ah geh, wenn’s i hob, dann hob’ns alle.“
Schon wollte ich erwidern, sie sollte ihren mit Covid-19 infizierten Dreck behalten, aber so bin ich nicht erzogen worden. Ich bezahlte, nahm den Aufschnitt mit, lagerte ihn in meinem Kühlschrank und verzehrte ihn schließlich. So dumm kann man sein.

Ich atme noch, Glück gehabt. Aber inzwischen wäre ich vorsichtiger. Man soll ja nun daheim bleiben, auch wenn draußen die Sonne scheint und die Bäume in schönster Pracht ihre Blüten ausstrecken.
Diese Anweisungen befolge ich allerdings nur bedingt. Wenn ich mich nicht mehr aufs Rad schwingen dürfte und mich umschauen im Hasenbergl, in Allach, in Solln, in Unterföhring, in Daglfing, dann würde ich tiefster Depression anheimfallen und das kann der Sinn meines Lebens nicht sein.

Vor kurzem kam mir der Gedanke: Wenn ich schon nicht wegfahren darf in weit entfernte Ländereien, zum Beispiel nach Augsburg, nach Passau, nach Oberammergau, dann begebe ich mich halt auf eine Reise, die mir keiner verbieten kann: Ich beame mich zurück, in die Gefilde der eigenen Vergangenheit.

Von jeher war und ist der Zinkl ja Sammler und Archivar und das betrifft nicht nur Schallplatten, BluRay-Boxen und GEO Epoche-Magazine, sondern auch Privatfotos von seinen Familien, Freunden und von sich selbst. Einen Berg von Fotos in digitaler Form hat er seit ca. 15 Jahren in seiner Hardware angehäuft, freilich gewissenhaft chronologisch sortiert. Ordentlich abgehangen ist das Zeug inzwischen, wenn nicht sogar schon digital verstaubt.

Nun jedoch ist die Zeit gekommen, Folks! Ich hatte vor einigen Tagen die enorme Idee, aus dem gesamten Fotobestand Bücher zu machen. Schön gestaltete, grafisch anspruchsvoll komponierte Fotobücher zum Drinrumblättern und Schwelgen in der guten alten Zeit (die so gut nicht immer war, aber was soll der Geiz?).
Irgendwo muss man anfangen, also habe ich mir vorerst mein bisheriges 21. Jahrhundert vorgenommen.

An Silvester 2001/2002 hatte ich mich mit Kiki zusammengetan, 2003 ist unsere herzallerliebste kleine Linda auf die Welt gekommen. Aus dieser Zeit gibt es noch jede Menge Bilder auf glänzendem Fotopapier, die habe ich mit 300 dpi eingescannt, farblich korrigiert, partiell retuschiert und das erste Fotobuch gestartet.
Vieles, was aus dieser Zeit in meinem Hirn verschütt gegangen ist, wird nun wieder ans Tageslicht gezerrt und erfreut mein Herz über alle Maßen. Damals durfte man sich noch umarmen, herzen, küssen, auch ohne größere Nachwirkungen beniesen. Jaja, das gab es alles mal!

Ich bin mittlerweile im Jahre 2005 angekommen. Nicht alle Fotos finden Verwendung, sondern nur die reizvollsten, bevorzugt werden natürlich besondere Events in Szene gesetzt, wie die Urlaubsreise nach Lissabon, die Hochzeitsreise nach Manhattan, das Skiwochenende in der Schweiz. Also Unternehmungen, die heutzutage undenkbar sind.
Besonders schön auch, mein herzallerliebstes Teenagermädchen Marlena im Zeitraffer wachsen und erblühen zu sehen, Dankbarkeit und Demut umflort mich schubweise.

Damit das ambitionierte Projekt nicht ein rein nostalgisches bleibt, habe ich parallel begonnen, auch ein ganz brandaktuelles Fotobuch zu basteln, mit Bildern seit 2020. Begonnen hatte das Jahr noch mit einem Besuch der österreichischen Hauptstadt, inzwischen können nur noch bescheidene Radltouren ins Feldmochinger Schwarzhölzl und zum Mückensee dokumentiert werden. Auch okay, wie ich finde. Hauptsache, der Himmel fällt einem nicht auf den Kopf, wie die Gallier um Asterix zu behaupten pflegten.

Dieser Dokumentationsdrang erinnert mich übrigens an meine Studentenzeit, als ich Mitte der 80er Jahre mit meinem guten alten Freund Georg Trenz eine heitere Sommertour durch die deutschen Lande unternahm.
Eine Rundreise über Stuttgart, den Rhein nordwärts entlang, bis rauf zur Mosel, weiter nach Aachen, tatsächlich nach Amsterdam, ostwärts rüber auf die kleine Insel Spiekerog, weiter bis nach Hamburg und Berlin und von dort schließlich zurück über Bamberg nach Muc. Eine großartige Sache war das damals, ein Roadmovie mit Übernachtungen ausschließlich in durchgelegenen Jugendherbergsbetten — wir Studenten hatten ja kein Geld für Hotelaufenthalte.

Aber was ich eigentlich erzählen wollte: Damals führten wir dicke DinA5-Notizbücher mit uns, in denen wir unsere Erlebnisse handschriftlich ausführlich festhielten. In denen wir auch hineinzeichneten (wir waren ja Künstler!), originelle Bierdeckel einklebten, Klatschmohnblüten und nicht verzehrte Käsebrösel mit Tesafilm für immer festhielten. Täglich wurden diese Bücher herausgeholt und aktualisiert, natürlich auch mit Postkarten von den Orten, die wir besuchten.

Irgendwann begann ich durchzudrehen, ich weiß das noch ganz genau. Nämlich wurden die Aktualisierungen in meinem Buch in immer kürzer werdenden Abständen vorgenommen, so dass bald nicht mehr das Erlebnis an sich im Vordergrund stand, sondern die Dokumentation des Erlebnisses. So dass schließlich die Dokumentation zum Erlebnis selbst wurde. So in dem Sinne: Wir hielten mit dem Auto an einem Waldstück an und ich beschrieb nahezu zeitgleich, dass wir mit dem Auto an einem Waldstück angehalten hatten. Diese Entwicklung war fatal. Die Revolution fraß ihre eigenen Kinder, wie man so sagt.

Na gut, das soll mir eine Warnung sein. Wenn ich mein 2020-Fotobuch anlege, muss ich aufpassen, dass mir sowas nicht wieder passiert.
Gestern (Ostersamstag 2020) habe ich Ostereier gefärbt, diese Tätigkeit schön fotografisch festgehalten und ein paar Stunden danach im Fotobuch eine bunte Doppelseite gestaltet, genau mit diesen Bildern. Es geht schon wieder los, grauenhaft! Aber doch kein Wunder, dass man verrückt wird, auf dieser Coronawelt. Wenn einen der Virus nicht packt, dann vielleicht der eigene Irrsinn. Man entkommt nicht.

Ich wünsche euch allen noch eine erquickliche Rest-Osterzeit. Macht schöne Fotos und klebt sie gleich in ein Buch, damit ihr Ängstlichen was habt im Alter (Unerschütterliche gibt es dann ja nicht mehr).

– – – – –

PS.: Wer sich nun fragt, was mit meiner Lebensrückschau vor dem 21. Jahrhundert los ist: Dorthin beame ich mich schon auch noch, logisch, da muss ich aber erst in die untersten Kellerarchive vordringen, durch viel Spinnweben hindurchkrabbeln …

abstand-linie