Liebe Leser,
ich befinde mich derzeit in einer Sinnkrise, die mich umtreibt und aufwühlt. Weil sie mich erkennen lässt, dass ich mit gewisser Wahrscheinlichkeit einen starken Trieb verlieren werde, welchem ich mich in den letzten Jahrzehnten mit größter Hingabe gewidmet habe.
Ihr werdet nun denken: Was will er denn, was hat er denn, der Zinkl? Wo drückt ihn der Schuh? Ich darf es erklären.
Ich liebe Musik und ich sammle Musik. Schon immer. Seit ich mit 11 Jahren meine erste Langspielplatte bekommen habe (Slade: „Slayed?“) betreibe ich das. Ich erwarb in den 70er und frühen 80er Jahren Hunderte von Vinyls aus vielen musikalischen Stilrichtungen, ich pflegte sie und sortierte und stapelte sie — und dies mit großer Hingabe.
Als die Compact Disc erfunden wurde, begeisterte mich die sensationelle Möglichkeit, Musik ohne die mich arg störenden Nebengeräusche wie Knistern und Kratzen zu hören. Ich wurde ein intensiver Sammler der Silberscheiben, meine Vinyls rührte ich kaum mehr an, sie begannen ein Schattendasein zu führen.
Jegliche Musik, die ich als Langspielplatte gekauft hatte, kaufte ich von nun an erneut, aber diesmal auf CD. Kosten scheute ich dabei nie. Über die Jahre wurden es Tausende von CDs und ich hatte meine liebe Mühe, diese so zu archivieren, dass ich immer fand, was ich suchte.
Wochen meine Lebens verbrachte ich damit, die CDs nach Stilrichtung zu sortieren und musste beispielsweise darüber grübeln, ob ich die Jethro Tulls in die Regalfächer Rock oder Prog einordnen sollte.
Viel Arbeit bekam ich, wenn dann ein neues Jethro Tull-Album erschien. Denn dieses zwang mich, viele hundert CDs umzuschichten, um die neue Scheibe in der Regalwand an den korrekten Ort bringen. Von Zeit zu Zeit musste natürlich auch die gesamte Regalwand erweitert werden, irgendwann ließ ich zusätzlich einen gigantischen Schubladenschrank schreinern.
Es gab spezielle Alben wie Tomitas „Pictures at an Exhibition“, welches ich selten hörte und dann irgendwann schwer finden konnte, weil ich vergessen hatte, ob ich es in geistiger Umnachtung zum großen und kaum überschaubaren Bereich der klassischen Musik dazugesteckt hatte, obwohl es natürlich eigentlich in den Bereich Prog / Elektronik gehörte, da wo sich auch Tangerine Dream und Jean-Michel Jarre befanden.
Aber dann kam eine weitere Innovation in die Welt und mit ihr neue Herausforderungen: die mp3-Datei!
Die Musik war nun ungleich platzsparender zu archivieren, einfacher zu sortieren nach Stil und Alphabet, jedes Album war deshalb auch blitzschnell auffindbar. Und Neues problemlos zuordbar: keine aufwändigen Regalumschichtungen mehr!
Allerdings brauchte ich einige Jahre, um den gesamten CD-Musikbestand in mp3-Dateien zu generieren, also in den Computer hineinzuschaufeln und im iTunes-Programm eine mir gefällige Ordnung herzustellen. Und jedem Album eine saubere Darstellung seines Covers beizugeben.
Ich habe das stets mit Leidenschaft und Hingabe gemacht und war immer sehr stolz auf meine geniale Ordnung und große musikalische Vollständigkeit. Neben meinem gewaltigen Kompendium an Alben von Hunderten von Bands und Komponisten hat beispielsweise auch eine Zusammenstellung von über 1.500 besten Liedern aller Zeiten Maßstäbe gesetzt.
Selbst als ich durch ein großes Glück und ganz besonders günstig in den Besitz einer großartigen Sammlung von 1.200 CDs mit klassischer Musik vor allem aus der Renaissance und dem Barock kam, wurde ich nicht müde, auch das alles sorgfältigst zu sichten, zu katalogisieren und in mp3-Dateien umzuwandeln. Besessen halt, ist so.
Vor einigen Jahren wies mich ein guter Freund und leidenschaftlicher Musikhörer auf einen neuen Online-Service namens Spotify hin. Damit könne man für eine geringe monatliche Gebühr JEGLICHE Musik sofort abrufen und hören. Ganz simpel per Suchfunktion. Man brauche ab sofort kein eigenes Archiv mehr auf dem Computer, keine Backups, auch das Kaufen neuer CD-Alben wäre nun überflüssig geworden. Musik würde man nur noch mieten.
Das verachtete ich. Eine Ausbeutung der Musikschaffenden sei es, denn Spotify zahlt an die Künstler nur minimalste Geldbeträge dafür, dass deren Musik gehört werden kann. Zudem sei dies das Ende leidenschaftlichen Sammlertums. Ich wollte die Musik ja auch nicht nur mieten, sondern besitzen und mich beim Hören nicht abhängig machen vom Internetempfang.
Ich habe also weiterhin anfassbare CDs und unsichtbare mp3-Alben erworben, über die letzten Jahre für echt viel Geld, aber das war es mir immer wert.
Seit einiger Zeit haben meine Tochter Linda und ihre Mutter ein Spotify-Abonnement im Familientarif abgeschlossen. Sie verfügen damit nicht nur über die aktuellen Hits, sondern über so gut wie JEDE Musik, die es auf der Welt gibt. Sie boten mir an, mich in dieses Familien-Abo mitreinzunehmen, koste nicht extra.
Ich sagte, das brauche ich doch nicht, ich habe mein eigenes System, habe alles auf meinem Monster-iPhone 512 GB drauf, ganz individuell so sortiert, wie ich mir das einbilde, selbst unterwegs immer alles griff- und hörbereit.
Mittlerweile bekam ich mit, dass sehr viele meiner Progressive-Rock-Musikhörerfreunde aus Facebook das Programm Spotify nutzen, auch um individuelle Playlists zusammenzustellen und für den ambitionierten Hörer per Link bereitzustellen. Weil mich das interessiert und ich mich nicht als ewig Gestriger fühlen will, habe ich nun das Familienangebot angenommen und Spotify bei mir installiert.
Und was ist jetzt, Herrschaftszeiten? Ich entdecke täglich neue großartige Musik und intelligent zusammengestellte Playlists, freue mich über die gut gemachte Spotify-Programmierung und über die schöne farbliche Gestaltung. Und bin hin und weg, dass ich damit sogar mir bisher völlig unbekannte zeitgenössische klassische Musik zu hören bekommen kann.
Mein eigenes Archiv mit 800 Gigabyte Musik und Abertausenden von Musikstücken ist damit irgendwie in Frührente gegangen, es wird ab jetzt sehr viel seltener gebraucht werden. iTunes dient mir zwar noch als praktische Übersicht, wird aber auch gewiss nicht mehr erweitert werden, denn wieso sollte ich mir nun noch ein digitales Album für 8,99 Euro kaufen und in meine Listen integrieren, wenn ich es sofort „kostenlos“ online hören kann, daheim und unterwegs?
So umspült mich zur Zeit Trauer und Wehmut über meinen kastrierten Sammler- und Archiviertrieb — aber auch Entdeckerfreude, weil mir Spotify aufgrund meiner Hörgewohnheiten stilistisch ähnliche Musik anbietet, die mir ebenfalls gefallen könnte. Ich würde mir diese nicht unbedingt kaufen, aber dadurch, dass ich sie streame / höre, bekommen die Künstler Geld.
Selbst ZINKL-Musik gibt es komplett auf Spotify zu hören, dafür hat meine Plattenfirma längst gesorgt. Wenn ich meine Stücke abspielen würde (ich könnte sie ja auch auf lautlos stellen), würde ich damit ebenfalls Geld verdienen. Und zwar pro Stück / Stream immerhin 0,038 Cent.
Kleine Rechnung: Ein Lied mit 5 Minuten Länge kann man in 24 Stunden 288 mal abspielen. Das wäre dann ingesamt ein Verdienst von fast 11 Cent. Wunderbar! Als Musiker könnte ich mich damit selbst ganz hervorragend finanzieren, mit einem monatlichen Gehalt von 3,41 Euro.
Wir Intellektuelle haben es schwer, aber Gemach, mit steigendem Alter und nachlassenden Gehör, fällt es immer schwerer, Jethro Tull von Cindy und Bert zu unterscheiden. Dann steigst du auf „Kreuzfahrt ins Glück“ mit Florian Silbereisen um und lässt im Hintergrund Helene Fischers Atem rauschen…
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Musiker aller Länder vereinigt euch – gegen Billigstreams, die dazu noch unökologisch wie die Sau sind!
Lieber Anton, ja Spotify ist arg. 5300 Downloads reichen für einen Kaffee. Daher habe ich mich als Musiker mit 25 Alben verweigert. Und was geschieht? Die Live-Verkäufe via Postbote nehmen markant zu. Die CD vor allem im Kinderbereich ist längst nicht tot.
Haptisch sind wir geboren und haptisch tappen wir in den Sarg. Mit Spotify geht es natürlich (für Musiker) etwas rascher. Sie verhungern schlicht an den schäbigen Tantiemen.
Sobald Spotify faire Preise bezahlt, bin ich dabei – sonst bleibe ich ein Oldie. Hough!
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Ein Hoch auf alle „Oldies“!!! Man muss ja nicht bei jedem Schwachsinn vorne mit dabei sein! Ein wenig Eigenständigkeit und etwas „anders“ sein macht das ganze doch charmant! Wo bleibt die Vielfältigkeit, wenn immer alle das selbe machen?
Weiter so, mir reichen meine ca. 2000 Singles und LPs bis an mein Lebensende und ich würde sie um nichts in der Welt hergeben!!
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Dazu fällt mir ein: Die Vergänglichkeit des Tonträgers Schallplatte hat bereits der geniale Karl Valentin im Plattenladen erkannt. Immer wieder zum Niederknien schön!
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Da ham’s recht, Herr Rempremerdeng!!
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