Liebe Leser und *innen,

wenn man mit geschlossenen Augen durch München radelt, kann leicht ein schlimmes Verkehrsunglück passieren. Wenn man die Augen konzentriert offenhält, muss man zahllose Wahlplakate anschauen. Das ist auch schlimm.

Diese Gesichter und die Wahlsprüche die ganze Zeit, puh! Es ist echt penetrant und ich mache mir so meine (unreflektierten) Gedanken dazu. Aber solche dürfen gerne in meinen Blog hinein, ich bin ja kein seriöser Journalist, der sich vor einer gestrengen Leserschaft verantworten muss.

Die CSU: Damit Bayern stabil bleibt.
Stabil finde ich gut. Stabil. Nicht instabil. STABIL! Das steht übrigens auch auf Angela Merkels Plakat: Klar für Stabilität. Ich schließe daraus: Stabil ist gut auch für ganz Deutschland.
Leider bleibt auf Dauer nichts stabil, so gut wie gar nichts. Das wissen inzwischen alle. Alles fließt. Dieser schlaumeierische Spruch hat vor einigen Wochen auch noch eine ganz andere schreckliche Bedeutung bekommen. Schaudern.

Die SPD: Respekt für dich.
Über der höchst seriösen Schwarzweißabbildung von Olaf Scholz vor brutalem Sozial-Rot steht das. Ich finde auch, dass die SPD für ihren Kanzlerkandidaten Respekt empfinden sollte, das ist ja wohl das Mindeste.
Keinen Respekt vor dem guten Mann haben jedenfalls gewisse Leute in München, die direkt vor der Staatskanzlei auf mehrere Scholz-Plakate kleine CSU-Aufkleber auf Olafs Augen und über seinen Mund geklebt haben. Ich würde niemals so weit gehen zu behaupten, dass dieser lustige Streich vom Ministerpräsidenten Söder persönlich in Auftrag gegeben wurde. Man kann über Markus denken, was man will, aber so etwas macht er nicht.

Aktuell nicht zu entkommen ist man auch den Plakaten von SPD-Mann Florian Post. Das unerbittliche Sonnenlicht hat sein zaghaft lächelndes Gesicht ausgebleicht, hat nur noch pastelliges Blau stehenlassen. Darüber: POST FÜR SIE. Da dachte sich der Werbetexter wohl, wenn der Mann schon mit Nachnamen Post heißt, dann kann man doch nichts anderes dichten. Herr im Himmel, wie originell ist das denn?
Es gibt diesen schönen Liebesfilm mit Meg Ryan und Tom Hanks: „E-Mail für dich“. Er erschien in einer Zeit, als E-Mails noch was aufregend Neues waren. Ob Florian das „Post für Sie“ witzig findet? Er wird es wohl abgesegnet haben. Aber so verhalten, wie er auf seinen Plakaten dreinschaut, scheint er doch nicht ganz glücklich damit zu sein.

Die Grünen: Bereit, weil Ihr es seid.
Da die Grünen in ihrem Slogan das dritte Wort mit großem Anfangsbuchstaben beginnen lassen, frage ich mich, ob dieser Spruch eine bestimmte Person ansprechen soll.
Ich muss da sofort an eine Filmszene in „Das Schweigen der Lämmer“ denken, mit Anthony Hopkins als Hannibal Lecter, dem in seine Zelle von einem Wärter das Essen gebracht wird mit den Worten „Bereit, wenn Sie es sind, Doc.“ Lecter hört aber gerade ganz andächtig die Goldberg Variationen von Johann Sebastian Bach, deshalb braucht er noch eine Minute…
Ich glaube, die Grünen meinen tatsächlich Hannibal Lecter, wenn sie auf ihre Plakate drucken: Bereit, weil Ihr es seid. Wen denn sonst?

Die FDP: Nie gab es mehr zu tun.
Jawohl, Herr Lindner, das kann man mit Fug und Recht behaupten. Der Schulweg muss wieder in die Zukunft führen. Aus Liebe zur Freiheit. Farbe bekennen für Wirtschaft, Handel und Handwerk. Verbrennungsmotoren verbessern, nicht verteufeln.
Das sind alles Aussagen, die mir ein wohliges Schaudern ins Rückenmark zaubern. Ich glaube, ich wähle diesmal FDP, die verbessern die Verbrennungsmotoren. Ich habe mir immerhin vor zwei Monaten einen 12 Jahre alten Benz gekauft, einen Benziner. Ob man an dem Motor auch noch was verbessern kann? Ich ahne es aber schon: zu aufwändig, zu teuer.

Die AFD: Deutschland, aber normal.
Das ist so ziemlich der perfideste Spruch in der unsäglichen Welt der Wahlplakate. In diesem Falle bekommt das eigentlich so harmlose Wörtchen „normal“ nämlich eine ganz neue unheilvolle Bedeutung eingepflanzt. Wer sich mit dem Programm der AFD beschäftigt, wird das leicht selbst herausfinden können. Es schaudert mich erneut, diesmal ist es aber kein wohliges, sondern ein kaltes unbarmherziges Schaudern.

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Ich kann mich an ein Erlebnis in meiner frühen Jugendzeit erinnern, als wäre es erst gestern gewesen. Ich stehe alleine in der Küche, an der Fensterbank in unserer Wohnung in Markt Schwaben, schaue hinaus, das goldene Spätnachmittagslicht strahlt durchs Fenster, es ist ganz ruhig im Raum.
Plötzlich erzittere ich innerlich, es überflutet mich unglaublich wohlig und ich fühle in mir eine Mischung aus Wärme, Geborgenheit, Zeitlosigkeit — eine fantastische Empfindung, welche nichts mit Vergangenem oder Zukünftigem zu tun hat, sondern völlig im Hier und Jetzt steht.
Diese Anwandlung dauerte nur kurz. Und ich dachte mir danach, wie paradiesisch wäre es, wenn ich diese „romantische“ Stimmung, dieses Wohlgefühl ständig in mir tragen könnte.
Ein solch außergewöhnliches Befindlichkeitserlebnis hatte ich dann nur noch sehr wenige Male, auch ohne das goldene Spätnachmittagslicht. Als Erwachsener nicht mehr. Ein einziges Mal letztes Jahr noch, erstaunlicherweise, wieder ohne bewussten Anlass.
Ich habe darüber noch nie gesprochen. Und erzähle es hier zum ersten Mal, habe es auch nur unzureichend in Worte fassen können, weil es so speziell ist.

Bin ich der einzige Mensch, dem so etwas passiert ist? Kennt eine/r meine Leser*innen auch ein ähnliches Gefühl, diese wunderbar wohlig überflutende Stimmung, welche unverhofft — scheinbar ohne bewussten Grund — auftaucht oder irgendwann mal aufgetaucht ist? Würde mich wirklich interessieren. Unter dem Motto: Post für Zinkl.

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