Liebe lesende Auszubildende,

vor einigen Tagen hatte ich einen dermaßen deutlichen Traum, dass ich mich jetzt noch an viele Details erinnern kann. Die Handlung begründete sich auf meine Lehrzeit, 1978, als mir als 18-jähriger beim Bruckmann Verlag in München in der Nymphenburger Straße eine Ausbildung zum Tiefdruck-Retuscheur angetan wurde.

Eigentlich wollte ich ja Grafiker oder Künstler werden, aber mein hochverehrter Lehrer in der Fachoberschule, Herr Sieber, flüsterte mir wissend ins Ohr, dass es für eine erfolgreiche berufliche Zukunft bedeutend sei, vor einer unsicheren Studiererei einen handfesten Beruf erlernt zu haben. Theorie und Praxis: Schon wenige Jahre nach meiner denkwürdigen Lehrzeit war der Beruf des Tiefdruck-Retuscheurs aufgrund technischer Innovationen so gut wie ausgestorben. Das war mir ziemlich egal, ich studierte dann ja und wäre sowieso ein lausiger Tiefdruck-Retuscheur gewesen, da bin ich mir sicher.

Ich habe nun also geträumt, dass ich nach Jahrzehnten in den Bruckmann Verlag, Abteilung Tiefdruck-Retusche, zurückgekehrt bin — um zu sehen, was daraus geworden ist. Der ziemlich skurrile Traum ignorierte die Tatsache, dass es eben diese Abteilung schon seit ca. 35 Jahren gar nicht mehr gibt.

Apropos skurril: Die Realität damals hatte schon auch ihre starken Momente. Darum berichte ich hier erstmal, was ich Schönes erlebt habe, als Lehrling, in echt.

Im ersten Ausbildungsjahr waren drei hübsche Mädels (Babsi, Birgit, Gudrun) und ich (Anton) eingestellt worden. Unter seine Fittiche nahm uns Herr Schweidler, ein glatzköpfiger Senior mit einem zerfurchten, aber scharfen Habichtsgesicht. Hätte er eine Naziuniform getragen, wäre die Gesamterscheinung perfekt gewesen. Schweidler war autoritär, streng und durchaus furchterregend.

Er lehrte uns, mit feinen Pinseln exakte gerade Linien auszuführen — das geht, wenn man den Pinsel an einem sogenannten Malstock entlanggleiten lässt und nicht herumzittert. Wir mussten am Ende jeden Arbeitstages in ein Heft unsere geleisteten Tätigkeiten eintragen. Das durfte auf keinen Fall stichpunktartig geschehen, Schweidler verlangte ganze Sätze, die immer mit „Ich habe“ oder „Danach habe ich“ beginnen mussten.
Außerdem verteilte er einmal an uns alle ein unscharfes Foto von einem Lamm und wir bekamen die Aufgabe, dem Tier ein Fell hinzustricheln. Dass das Lamm danach aussah wie ein brutal gestutztes Stachelschwein, belastete Schweidler nicht. Dass diese Aufgabe mit dem Beruf des Tiefdruck-Retuscheurs so gut wie nichts zu tun hatte, interessierte unseren Ausbilder genausowenig. Ich habe das Bild von dem Lammstachelschwein noch heute, es ist wunderbar.
Ein einziges Mal war ich frech zu Schweidler. Daraufhin schickte er mich zornig in die Abteilung seines Vorgesetzten, ein Stockwerk höher, zu Herrn Rettenberger. Wir nannten diesen Mann Rettenzwerger, weil er ziemlich klein war. Rettenberger sagte ruhig zu mir, er würde mich hinauswerfen, wenn das noch einmal vorkommen würde.

Es gab einen weiteren Lehrling in unserer Gruppe: Volker. Er war schon im dritten Ausbildungsjahr und wurde von Schweidler regelmäßig hart zusammengestaucht. Volker war ein großer muskulöser Mann mit kurzen blonden Haaren und in seiner Freizeit Judokämpfer. Von Schweidler ließ sich Volker alles gefallen. Er muckte nie auf, er war wie das Lamm in den Krallen eines grausamen Wolfes. Mir tat Volker leid und ich stellte mir damals vor, dass er eines Tages zur Bundeswehr gehen würde, um dort als Ausbilder seinen Schützlingen so richtig in den Arsch zu treten, wenn sie nicht spurten. Besser wäre es gewesen, wenn Volker Herrn Schweidler mal durch die Luft gewirbelt hätte. Das passierte aber leider nicht.

Im zweiten Lehrjahr bekamen wir einen anderen Ausbilder, Herrn Scholz. Der war das Gegenteil von Schweidler. Ein sanftmütiger, dezenter Mann mit einem enormen Gedächtnis für Zahlen.
Die Tätigkeit des Tiefdruckretuscheurs bestand darin, die verschiedenen hellen und dunklen Grautöne in einem Schwarzweißbild mit einem optischen Instrument names Densitometer (siehe Abbildung!) zu messen. Die am Densitometer angezeigten Zahlen notierte man sich und legte dann fest, wie stark und an welchen Stellen man das Bild aufhellen oder abdunkeln musste, damit es sich für den Druck gut eignete. Danach kontrollierte man erneut am Densitometer, notierte die Zahlenwerte, korrigierte erneut am Bild, maß erneut, usw.
Herr Scholz sagte zu uns, er könne sich viele dieser Zahlen über Nacht problemlos merken, wir sollten das ruhig auch versuchen, das sei eine gute Übung. Ich stellte den Sinn einer solchen Geistesleistung damals nicht in Frage, sondern war schwer beeindruckt.

Wir vier Auszubildende und Herr Scholz saßen an unseren Arbeitsplätzen mit den hell erleuchteten Milchglasscheiben und verglichen Zahlenwerte, verdunkelten Bildbereiche mit dem Pinsel oder hellten sie auf mit einer ungut riechenden Spezialsäure. Wenn es mal besonders ruhig war, machte Herr Scholz ein Geräusch, welches wie das Bellen eines kleinen Hundes klang. Nach einer halben Minute sagte er leise: „Ruhig, Bobo.“ Weder ich noch die drei Mädels lachten oder kommentierten das in irgendeiner Form. Dabei wollte uns Scholz nur aufmuntern. Ich fand das schon wahnsinnig witzig, aber warum habe ich ihm das nie gesagt, ich Depp?

Im dritten Lehrjahr schickte man uns jungen Leute zur Weiterbildung in die Abteilung Reproduktionsfotografie. Das waren komplett schwarz gestrichene Räumlichkeiten (Dunkelkammern), in welchen Kameras installiert waren, die waren so groß wie Elefanten. Weil der Scanner noch nicht erfunden worden war, brauchte man für die Reproduktion von Abbildungen als Druckvorlagen diese Monster. Heutzutage kann man sich eine solche Maschine im Deutschen Museum anschauen, einen Tyrannosaurus Rex der Druckvorlagentechnik. Es lohnt sich!
Niemand kümmerte sich um uns, wenn wir in diesen dunklen, nur von schwachem Rotlicht beleuchteten Höhlen herumlungerten. Während draußen die grelle Sommersonne herunterbrannte, verbrachte ich dort viele Nachmittage im Halb- bis Tiefschlaf, bis ich nach Dienstschluss in die Freiheit entlassen wurde. Mein Gott, war das langweilig damals. Unendlich langweilig.

Meine gesamte Lehrzeit empfand ich als eine Verschwendung von Zeit und Energie für Sinnlosigkeiten. Na gut, ein wenig Verständnis für die Druckvorlagentechnik hat mir als Grafiker später nicht geschadet, aber ein sechswöchiges Praktikum hätte es dafür auch getan.
Ich bin von jeher aktiver Nachtmensch und bin ein Gelähmter am Morgen. Drei Jahre sich um Viertel nach fünf aus dem Bett quälen, sich um sechs in die S-Bahn schleppen, um sieben dann an einem Arbeitsplatz ankommen, welcher mit Neonröhren an der Decke und hinter Milchglasscheiben an den Wänden so grell erleuchtet ist, dass man erstmal 15 Minuten braucht, um die müden Äuglein an diese Hölle des kalten Lichts anzupassen!
Aber damals war ich ja noch jung, Körper und Geist waren frisch, ich habe in der S-Bahn sogar ein dickes Kunstgeschichtsbuch über die Antike gelesen, um als Retuscheur nicht zu verblöden. Dorische, ionische und korinthische Kapitelle an Säulen und so ein Zeug. Gut zu wissen!

Eigentlich brauche ich jetzt nichts mehr von meinem Alptraum zu erzählen. Dass ich mich darin in den langen schmalen Gängen des Bruckmann Verlags, Abteilung Tiefdruckretusche und Reproduktionsfotografie, verlaufen hatte, in den Dunkelkammerhöhlen, in einem mysteriösen Zwischengeschoss mit gelb qualmenden, stinkenden Säurebädern. Dass ich dort einem irre Worte brabbelnden verstaubten Gnom begegnet bin, der mit einer Spitzhacke ein eiförmiges stacheliges Objekt aus der Wand herausmeißelte.

Warum verfolgt mich so etwas nach über 40 Jahren noch? Kann mein blödes Hirn nicht auch mal was Schönes träumen? Vor ein paar Jahren wollte ich den netten Herrn Scholz nach so langer Zeit in seinem wohlverdienten Ruhestand besuchen. Ich erfuhr von seinem längst erwachsenen Sohn, dass er leider vor drei Wochen verstorben war. Das hat mich sehr getroffen.
Dafür tauchte kürzlich bei mir im Hinterhof total spontan ein uralter Mann auf, der sich als Herr Sieber entpuppte. Er habe mich über meine Blogs entdeckt und war gerade in der Gegend. Das hat mich total gefreut.

Die Gespenster der Vergangenheit: Manche davon leben noch!

abstand-linie