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Liebe Rollende,

dieser Herbst 2021 bietet mir ganz besondere neue Erfahrungen. Ich durfte beim Sanitätshaus Streifenender einen Rollstuhl ausleihen, um mein 40 kg schweres Gipsbein durchs Land wuchten zu können. Weil es ja doch etwas mühsam ist, auf Krücken mehr als 50 Meter weit zu humpeln. Und beim Bewegen der Räder werden die Oberarmmuskeln auch beansprucht. Obwohl ich mich echt gerne schieben lasse. Wer will mich schieben?

Alles was höher als 30 Millimeter ist, bedeutet für den unerfahrenen und teilweise auch unkontrollierten Rollstuhlfahrer eine unüberwindliche Barriere. Gut, dass die Gehsteige an manchen Stellen auf Straßenniveau abgesenkt sind, sonst wäre man hilfloses Asphalt-Freiwild für die KFZ-Wildlinge.
Auch der Blick aufs Stadtleben ist plötzlich ein völlig neuer. Man kann sich besser konzentrieren auf die Beine der Damen, man ist auf Augenhöhe mit der Überschrift der BILD in den Zeitungsständern, man wird von den Fußgängern rücksichtsvoll und ohne Meckern umschritten, auch wenn man sich mit seinem Gefährt mitten auf dem Gehsteig voranarbeitet.

In einen Discounter habe ich mich noch nicht hineinrollen trauen, auch wenn er barrierefreien Zutritt gewähren würde. Die engen Gänge zwischen den Gurkengläsern und den Eierkartons schrecken mich ab. Und wenn es zu einem ausweglosen Stau mit anderen Einkaufenden käme, würde mich vermutlich eine Panikattacke erfassen. Ich müsste mir dann die Maske herunterreißen und das ist ja verboten.

Da kommt mir eine Szene in den Sinn, in dem aktuellen Eberhofer-Film „Kaiserschmarrndrama“: Der kranke Birkenberger rast entsetzt schreiend in seinem Rollstuhl unfreiwillig eine steile Straße hinunter. Erst jetzt wird mir der Schrecken einer solchen Situation voll bewusst. Mein Sitzwagen hat zwar Bremshebel, aber damit würde ich in einer solchen Situation vermutlich einen oder mehrere Salto mortale vollziehen, mit wenig Eleganz aber umso stärkerer Nachwirkung auf Sehnen und Knochen… pfffff.

Fast zeitgleich mit mir haben sich zwei Arbeitskollegen einen Bandscheibenvorfall und eine schwere Rippenprellung zugezogen. Diese starke Solidaritätsbekundung hätte ich nicht erwartet, aber danke — die drei angeschlagenen Musketiere!
Und die Wiesn findet auch mal wieder nicht statt. Was mich, ehrlich gesagt, unter diesen Umständen noch viel weniger juckt, als eh’ schon. Ein würziges Helles vom Fass im Biergarten der Finsinger Alm, gestern, war mir ein ausreichender Ersatz. Alexandra hat mich tapfer dorthin verschifft und mich danach auch noch am Ufer des glitzernden Speichersees hin- und hergeschoben. Das ist schon was! Danke, Baby!

Und es gibt noch mehr Positives zu berichten! Die italienische Autobahngesellschaft hat mir geschrieben und die Bankverbindung mitgeteilt, über welche ich die 2,30 Euro Gebühren nachüberweisen kann, welche ich an der Mautstelle nicht bezahlt hatte. Außerdem habe ich festgestellt, dass ich ein Filetsteak im Sitzen viel konzentrierter saftig rosa braten kann, als das der Brathektiker früher im Stehen geschafft hatte (und dabei eine Schuhsohle entstehen ließ). Das sind Erfolgserlebnisse, das hebt die Laune des Rollkäfers.

Im Zuge dieses Hochgefühls habe ich dann bei Eventim gleich Tickets bestellt, für ein Konzert im Nürnberger „HIRSCH“, welches am 12. Mai 2022 stattfinden soll. Und wer spielt? Ja, es ist unglaublich, ein progressives Trio mit einer gesamten aktuellen Lebenszeit von 220 Jahren. Peter Hammill, Hugh Banton und Guy Evans — die legendären VAN DER GRAAF GENERATOR.

Ich habe deren Song „Killer“ 1974 im BR-Nachtradio gehört — das war eine Inititalzündung, die dafür gesorgt hat, dass ich sehr zügig alle verfügbaren Alben der Band erwerben und bis zum Exzess laut hören musste. Sicher bisweilen zum Leidwesen meiner Mitbewohner im Markt Schwabener Elternhaus, denn für Peter Hammills bedrohlichen Flüster- und Schreigesang und David Jacksons schrille Saxophoneruptionen muss man was übrig haben. Ich fand es damals endgeil, wie man heutzutage so sagt.

Hammill wurde für mich zu einer Art Gottheit, auch seine extremen Solo-Alben aus den 70ern gehören in die Kapelle der ewigen Göttlichkeit. Und er lebt noch! Ich habe ihn vor Jahrzehnten live gehört, mit seiner Band, und einige Male bei seinen Soloauftritten. Nun also 2022 ein allerletztes Mal mit zwei Band-Gründungsmitgliedern!
Dass er mittlerweile ziemlich an Stimmkraft verloren haben dürfte, ist mir wurscht. Das geht vielen alten Rock- und Prog-Haudegen so — man denke da an Ian Anderson von Jethro Tull und (ganz aktuell ein Thema auch in der Yellow Press) an Phil Collins.
Collins kann keinen Drumstick mehr halten und seine Gesangsleistungen sind nur noch 20 Prozent von dem, was er in den späten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts überall auf der Welt hat erklingen lassen. Dennoch geht er nächstes Jahr auf US-Tour mit seinen Genesis-Freunden. Ach, ich gönne es ihm wirklich und hoffe, es wird ihm Spaß bringen. Phil hat mir so unglaublich viel Freude bereitet, als sensationeller Schlagzeuger und ausdrucksstarker Sänger.
In zehn Jahren wird es eh’ vorbei sein mit den Helden aus meiner Sturm- und Drangzeit; Peter Gabriel hat ja längst aufgehört, aufzutreten, er wird schon wissen, warum.

So, meine Lieben, das waren mal wieder die Breaking News von Zinkls bloggender Wenigkeit. Ich wünsche euch: GESUNDHEIT! Und empfehle unbedingt die beiden Van der Graaf Generator-Alben „Pawn Hearts“ und „Godbluff“. Damit auch das Hirn vital bleibt.

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