
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
ganz genau: Meine liebe Tochter Linda hatte gestern ihre Abiturprüfung in Deutsch, morgen hat sie Englisch und nächste Woche kommt Mathematik dran. Danach nur noch Kunst und Religion, das ist ja vergleichsweise sorglos, aber die Fächer davor: der pure Stress.
Mich dauert Lindas Schicksal sehr, weil ich mich gut erinnere. An meine eigene Schulzeit und ganz speziell an die Momente von Extemporalen und größeren Abfragesituationen.
Mir ist ja damals das Abitur erspart geblieben, weil meine Eltern meinten, als kaufmännischer Angestellter würde ich das sowieso nicht brauchen. Mein Vater sei kaufmännischer Angestellter in Poing bei Stahlgruber und er habe dafür auch nicht das Abitur benötigt. Dass der kleine Zinkl während seiner Kindheit die 26-seitige Fotostory aus der Fernsehzeitschrift „Bild und Funk“ zu dem Kinofilm „Das Kanonenboot am Yangtse-Kiang“ aufs Akkurateste nachzeichnete und dazu die komplette und durchaus umfangreiche Handlungsbeschreibung mit Bleistift in hervorragend lesbarer Schrift freiwillig abschrieb — dass er also leidenschaftlich diesen spektakulären Wahnsinn betrieb, welcher viele Stunden seines Kinderlebens beanspruchte: Das wurde mitnichten gedeutet dafür, dass er wahrscheinlich auch das Abitur schaffen könnte und zu Höherem bestimmt sei.
Tatsächlich bin ich kein kaufmännischer Angestellter geworden, aber: Soo leicht war die Realschule auch wieder nicht für mich. Ich musste schon ein wenig lernen, um Zweier und Dreier zu bekommen. Vierer und drüber wollte ich nicht, dazu war ich zu snobby. Für Einser war ich etwas zu faul. Die habe ich aber auch deshalb meistens nicht geschafft, weil ich so dermaßen nervös war vor Exen (= Extemporalen) und Schulaufgaben. Diese Nervosität hat mich oft blockiert — vor allem bei Mathe ist mir der kalte Schweiß die Achseln hinuntergeträufelt und ich habe gezittert, dass der Füller wackelte.
So mancher Lehrer hat dieses Versagen unbewusst unterstützt. So der Mathematiklehrer Kämpf. Ich mochte Herrn Kämpf. Er war ein humorvoller, von seinem Fach höchst begeisterter Mann mit lockigem rotem Haar und einem gigantischen Schnauzbart. Ein Roter (SPDler) durch und durch, man sollte meinen: ein guter Lehrer.
Aber wenn er eine — natürlich unangekündigte — Extemporale abhielt, war das für mich jedesmal eine brutale Stresssituation (zu dieser Zeit schrieb man noch: Stressituation). Kämpf hatte die Aufgaben auf das Prüfungsblatt mit seiner Handschrift gekrakelt — und deren Sinngehalt war, sehr großzügig ausgedrückt, nicht immer eindeutig. Außerdem machte er noch zusätzlich Druck, indem er nach dem Austeilen der Blätter rief: Zehn Minuten!
Da Zinkl, zitternd wie Espenlaub, erstmal verzweifelt darüber grübeln musste, ob da in der Gleichung ein großes S oder eine 5 stand und auch sein logisches Denken diesbezüglich nicht mehr funktionierte, war klar, dass er die Prüfungsaufgaben nach zehn Minuten nur fragmentarisch bearbeitet hatte. Dass Kämpf am Ende manchmal noch ein paar Minuten dazugab, machte es nicht besser. Er hätte lieber gleich am Anfang gesagt: Fünfzehn Minuten! Aber so war er: In seiner empathiefreien Impulsivität hatte er keine Möglichkeit, sich in einen 13-jährigen hineinzuversetzen, den er in einen Todeskampf gestürzt hatte.
Erst ein paar Jahre später wurde mir klar, dass man Mathe auch ruhig, logisch und lesbar vermitteln kann. Der entsprechende Lehrer in der Fachoberschule (seinen Namen habe ich leider vergessen) machte zwar einen eher abweisenden arroganten Eindruck, aber seine Erläuterungen leuchteten mir ein wie die Farben an einer Ampel.
Ach, was bin ich froh, dass ich keine Prüfungen mehr ablegen muss. Zu Inhalten, die im weiteren Lebensverlauf so relevant sind wie das Wissen über eine bestimmte Gräsersorte auf Neuguinea. Wenn man Biologe werden will, liest man sich das später sowieso mit Begeisterung an. Aber ich bin ja Grafiker geworden und brauche tatsächlich nur einen einzigen mathematischen Kniff: die Proportionsrechnung. 10 zu 5 ist wie 2 zu ? Einen ähnlichen Rechenvorgang leiste ich oft und benötige dafür keineswegs die Binomischen Formeln oder stochastische Spitzfindigkeiten.
Ich fragte Linda, ob sie morgen in der Abiturprüfung Englisch ein Diktat habe. Darauf lachte sie mich aus, als wäre ich jemand aus dem Mittelalter. Nein, sie bekäme schnell gesprochene Fragen auf Englisch vorgespielt und müsse sich währenddessen die Antworten notieren, natürlich auf Englisch. Unfassbar! Wie unmenschlich grausam ist das denn?
Ich hatte damals in der Fachoberschule einen Englischlehrer, der war fast immer „krank“ und wenn er dann mal da war, flirtete er mit hübschen Schülerinnen. Hartmut Löffler hieß der Mann, ein braungebrannter Sunnyboy, immer gut drauf. Viele Jahre später wurde er bekannt durch die BILD-Zeitung als „faulster Lehrer Deutschlands“. Echt wahr. Bei ihm habe ich tatsächlich kaum was mitbekommen, jedenfalls nichts, was mit dem Fach zu tun hatte. Heute schreibe ich Songtexte auf Englisch, mit Hilfe von Google Translate, aber es ist trotzdem eine große Mühsal und ich muss dauernd meinen lieben Freund Hans in seiner Eigenschaft als Englischlehrer befragen, ob man dies und das so sagen kann im Englischen. Arrghh.
Ich hoffe, Linda schafft die Prüfungen einigermaßen. Bei Deutsch sagte sie mir bereits, sie habe die Zeit außer acht gelassen und musste am Ende hetzen, was nicht für einen idealen Abschluss ihres Schriftstückes gesorgt habe. Grande Katastrophe!
Kürzlich sah ich übrigens den dänischen Spielfilm „Der Rausch“. Da gab ein verantwortungsbewusster Lehrer seinem übernervösen Schüler vor der mündlichen Abschlussprüfung ein paar Schlucke aus der Wodkaflasche. Worauf dieser deshalb lockerer wurde und die Prüfung schaffte. Vorbildlich! Das hätte Herr Kämpf auch mal machen sollen bei mir. Dann hätte ich sicher mehr Einsen herausgeholt, damals.
P.S.:
Ich musste einfach mal nach diesem Lehrer Hartmut Löffler googeln! Habe eine Pressemitteilung von 1992 entdeckt. Ihm wurde tatsächlich die Beamten-Pension entzogen, weil er neben über 60 Verfehlungen eine unerlaubte Nebentätigkeit als Inhaber einer Surfschule hatte und in seinem Büro Weinvertreter empfing. Also eine echt coole Socke, das muss man schon mal sagen. Löffler hätte bestimmt — vor allem seinen Schülerinnen — gegen die Prüfungsangst auch Wodka verabreicht.

Im Auszug aus Zinkls „dramatischer Geschichte aus den Reich des Drachen“ über Shanghai kann man die Formulierung „ein Komando schlitzäugiger Uniformierter“ erkennen. So, Herr Zinkl, Sie haben jetzt 10 MINUTEN ZEIT, um darüber nachzudenken, was Sie hier orthografisch und im Ausdruck verbessern könnten! Nehmen Sie davor einen tiefen Schluck aus der Wodkaflasche! Ich gehe inzwischen eine Runde surfen.
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Na ja lieber Zinkl, in der Tat erinnere ich mich auch noch an Klassenfahrten nach Singen und einen coolen Chemielehrer Fäustl, der mir sogar mal den Jetschwung beibrachte, als alle beim Mittagessen waren im Skilager. Außerdem war er mit unserer Kunstlehrerin verbandelt und es hätte uns schon sehr interessiert, wie das alles abgelaufen ist. Der Musiklehrer Gall hat mit uns „Yellow Submarine“ gesungen. Im Gegensatz zu dir, der durch die Schülerzeitung höchste Anerkennung in seiner Nebenbegabung bekommen hat, hoffte ich umsonst, Qualitäten für eine spätere Gesangskarriere bestätigt zu bekommen.
Ach ja, Prüfungen gab es auch und sogar eine Frau Kämpf, hier englisch… Aber davon hast ja du schon geschrieben.
Keine Prüfungen mehr? Zinkl! Wie langweilig! Herzlichst, Patrizia
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Hallo
Ich habe in den 80-ern bei Harti Löffler in seiner Windsurfschule in Italien gearbeitetund ihn vor kurzen gegoogelt. Er lebt in Italien, Lucca, glaube ich und ist zu finden unter Harti Löffler di Casagiove. Hat wohl noch mit 82 am Chiemsee an Segelwettbeweben teilgenommen. Ob er noch lebt, weiss ich nicht! Lg Sigi
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