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»Guten Tag, spreche ich mit Herrn Zinkl?«

»Ja, ich bin am Apparat.«

»Äh, ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern. Stölzl ist mein Name. Sie haben mir mal eine Visitenkarte gemacht, das muss Anfang der neunziger Jahre gewesen sein.«

»Ah, das ist ja über 30 Jahre her. Stölzl ist Ihr Name? Haben Sie eine Druckerei?«

»Ganz genau, damals hatte ich eine Druckerei! Haben Sie diese Visitenkarte noch?«

»Sie meinen, ob sich diese noch in meinem Archiv befindet? Das glaube ich nicht, denn falls ich zu dieser Zeit schon am Apple Computer gearbeitet habe, war das mit Sicherheit mit dem Programm QuarkXPress, das ist bei mir nicht mehr installiert. Die Datei könnte ich also wahrscheinlich gar nicht mehr öffnen.«

»Oh, was machen wir denn da?«

»Wollen Sie diese Visitenkarte nochmal gedruckt haben? Ich kann sie sicher problemlos an meinem jetzigen Rechner neu anlegen, das ist bestimmt kein großer Aufwand.«

»Herr Zinkl, die neue Visitenkarte soll aber nun ganz anders aussehen. Mehr so im Stil „new normal“. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Okay. Sie müssen mir aber zuerst einmal per E-Mail die Texte für die Visitenkarte schicken. Haben Sie auch ein Firmenlogo?«

»Das Firmenlogo ist veraltet. Ich habe jetzt eine ganz andere Firma. Ich brauche dafür auch ein Logo. Modern soll es aussehen, aber trotzdem schon auch new normal.«

»Was haben Sie denn jetzt für eine Firma?«

»Sie soll heißen Stölzl Unternehmensberatung. Oder so was in der Richtung. Das ist noch nicht zu Ende gedacht. Aber die Adresse, die gibt es schon. Behringer Straße 44b.«

»Okay, Herr Stölzl, aber ohne komplette textliche Unterlagen macht es für mich wenig Sinn, mit einer Gestaltung zu beginnen.«

»Aber ich brauche dringend eine Visitenkarte. Sie muss eine moderne Ausstrahlung haben, das ist sehr wichtig heutzutage. Aber sie darf nicht so eine Wirkung haben, dass man sagt: in Schönheit gestorben. Sie muss clean sein. Cool. Geradlinig, aber prägnant. New normal eben. Können sie mir so eine Visitenkarte gestalten?«

»Herr Stölzl, bevor es an die gestalterischen Details geht, benötige ich die Texte. Und für ein neues Logo brauche ich natürlich auch Angaben, wie Sie sich das vorstellen. Und dann ist das natürlich auch eine Frage des Etats. Für ein gutes Logo muss man viel Zeit investieren, wenn viele verschiedene Vorschläge gewünscht werden. Vielleicht können Sie mir ja Beispiele von anderen Firmen zeigen, die Ihnen gefallen.«

»Herr Zinkl, machen Sie es doch nicht so kompliziert. Ich brauche einfach ein Logo, verstehen Sie. Ein Logo, keinen aufwändigen Katalog. Und dazu eine Visitenkarte. Alles ganz clean, new normal. Wo ist denn da das Problem?«

»Herr Stölzl, ich glaube, wir kommen da nicht zusammen. Ich bin zur Zeit auch sehr viel mit anderen Jobs beschäftigt.«

»Ach, kommen Sie, Herr Zinkl. Sie sind doch Profi, denke ich. Sie arbeiten seit über 30 Jahren in diesem Business. Das machen Sie doch mit links, wie ich Sie kenne.«

»Herr Stölzl, ohne ein vernünftiges Briefing geht das nicht. Tut mir leid. Wenn Sie genau wissen, was sie brauchen, dann nehme ich mir schon die Zeit. Wieviel Etat haben Sie denn für das Projekt zur Verfügung?«

»Etat! Sie sind gut! Ich bin gerade erst mal am Anfang mit meinem neuen Business. So einfach geht das nicht, nach Corona. Ich dachte, Sie machen mir mal ein paar Entwürfe und wenn mir dann was gefällt, reden wir über das Honorar.«

»Herr Stölzl, so kommen wir nicht weiter. Ich mache Ihnen gerne ein unverbindliches Angebot, wenn Sie mir ein aussagekräftiges Briefing schicken.«

»Also, das ärgert mich jetzt. Ich dachte nicht, dass es so kompliziert ist mit Ihnen. Kann es sein, dass Sie gar nicht wissen, was man unter new normal versteht? Dann geben Sie das doch zu und reden nicht um den heißen Brei herum. Ich werde demnächst voll durchstarten, ich werde große Unternehmen beraten. Big Business! Sie werden von mir noch lukrative Aufträge erhalten, in den nächsten Jahren. Dafür müssen Sie aber schon ein wenig in Vorleistung gehen, das ist doch klar.«

»Herr Stölzl, ich wünsche Ihnen viel Erfolg für Ihr Unternehmen, aber ich habe jetzt leider keine Zeit mehr für dieses Gespräch. Tut mir leid.«

»Wie bitte? Ich fasse es nicht. Der Zinkl hat keine Zeit mehr! Also wirklich. Wissen Sie was, machen wir es einfacher. Sie suchen meine Visitenkarte von damals aus ihren Unterlagen heraus und modifizieren diese einfach ein wenig. Null Aufwand. Die Texte lassen wir erstmal so, die kann man dann ja schnell umtippen. Für das Logo nehmen wir einen Platzhalter, einen grauen Kreis zum Beispiel. Wissen Sie, was ich meine? Ein grauer Kreis ist ja fast schon new normal. Wenn Sie verstehen, was ich meine. NEW NORMAL. So denkt man heutzutage. Wissen Sie überhaupt, was CONSCIOUS CONSUMERS sind? DAS wird meine Zielgruppe sein. Leute, die auf Nachhaltigkeit Wert legen, ohne auf Genuss verzichten zu müssen. Aber ich glaube, Herr Zinkl, es bringt nicht viel, Ihnen das zu erklären. Sie sind einfach schon zu alt, um sich auf solche Herausforderungen einzulassen. Sie sollten mal in sich reinhören, ob Sie nicht inzwischen an selbstzufriedener Geruchsblindheit leiden. Tut mir sehr leid, aber das befürchte ich jetzt, nach unserem Gespräch. Wissen Sie was? Ich suche mir einen anderen Grafiker. Einen jüngeren, der auf der Höhe der Zeit arbeitet. Guten Tag.

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Wikipedia erklärt:
„Neue Normalität“ wurde 2018 durch den österreichischen Sprachphilosophen und Politikwissenschaftler Paul Sailer-Wlasits begrifflich geprägt und im deutschsprachigen Raum in den gesellschaftspolitischen Diskurs eingeführt. In seinen Publikationen kontextualisierte Sailer-Wlasits die Bezeichnung u.a. mit politischem Populismus und mit der 45. US-Administration unter Donald Trump als neuer globaler Normalität. Der deutsche Ökonom und Essayist Hans Martin Esser hat in seinem Essay „Die große Klammer – eine Theorie der Normalität 2019“ neue Normalität als durch Konsens zu findendes Ergebnis beschrieben, das sich nicht durch exogene Schocks als Krisennormalität konservieren lässt, da Normalität auf menschliche Bequemlichkeit baue. Im Zuge der COVID-19-Pandemie wurde der Ausdruck im Frühjahr 2020 zu einem politischen Schlagwort, nachdem deutsche und österreichische Politiker wiederholt konkret eine „neue Normalität“ angekündigt hatten. Gegen diese sprachliche Einordnung gab es vielfachen Widerspruch. Unter anderem kritisierte die ehemalige deutsche Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, es handele sich dabei um eine irreführende Begriffswahl, da ein „Krisenzustand nicht definitorisch zum Normalzustand“ erklärt werden dürfe…

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