Fortsetzung von Blog Nr. 247
17. Februar, Freitag, 7.30 Uhr.
Gerald war lange nicht mehr in dem Ort seiner Kindheit gewesen. Das ehemalige „Kuhdorf“ Anzing war noch immer ein Kaff, ganz im Gegensatz zum Nachbarort Poing, welcher sich zu einem kleinen Industriestandort gemausert hatte. In Anzing gab es zwar mittlerweile einen riesigen Lidl-Discounter am Ortseingang, aber sehr viel mehr schien sich hier nicht getan zu haben. Der Tennispark der Torwartlegende Sepp Maier stammte ja noch aus den siebziger Jahren.
Das Taxi setzte ihn mit seinem schmutziggelben Reisekoffer auf dem Parkplatz vom Discounter ab. Stimmungsvolles Morgengrauen am Horizont, glühend rot beleuchtete Wolkenschlieren über nebligen Feldern. Lidl hatte natürlich bereits geöffnet und Gerald spazierte hinein, weil es drinnen warm war und er zu diesem Zeitpunkt nichts Besseres zu tun hatte.
Er ging zu einer besetzten Kasse. »Guten Morgen, kann ich meinen Koffer hier bei Ihnen stehen lassen, vorübergehend?«
Die Dame an der Kasse deutete zu einer Ecke am Fenster in ihrer Nähe und meinte mit osteuropäischem Akzent: »Flughafen Lidl, Koffer bitte dorthin.« Sie grinste ihn an, offensichtlich bereits gut gelaunt, so früh am Morgen.
Gerald war übermüdet. Erst die Stunden hinter der muffigen Kellermatratze, danach das Herumlaufen mit Koffer durchs nächtliche und ziemlich kalte München und schließlich das Abhängen auf einer Parkbank im Luitpoldpark — alles recht anstrengend für einen, der sich früher nie gerne aus seiner Wohnung herausbewegt hatte. Das war nun aber Vergangenheit, dorthin konnte er nicht mehr zurück. Und jetzt war er beim Lidl in Anzing gelandet, um diese Zeit, das kam ihm surreal vor. Und deshalb auch irgendwie interessant.
Frische Brezen gab es noch nicht, er nahm sich einen Vitamindrink und schlich durch die hell beleuchteten Gänge. So früh konnte er auf keinen Fall bei Eviline aufschlagen, sie und ihr Mann Cornelius schliefen vielleicht sogar noch. Als Gerald bei den Non-Food-Regalen ankam, überlegte er, ob er sich eine lange Billigunterhose leisten sollte, weil es ihn fröstelte, trotz der 40 Minuten-Fahrt im Taxi. Der Taxifahrer hatte ihn in ein launiges Gespräch verwickeln wollen, aber Gerald war alles andere als in der Stimmung dafür gewesen. Er war zwar jetzt auf Abenteuerreise, aber für ihn hatte Morgenstund noch nie Gold im Mund gehabt. Er kaufte sich die Unterhose und auch eine scheußliche Fellmütze, letztere würde vielleicht zu seiner Tarnung beitragen können. Trotzdem dachte er daran, dass er sich sein Geld streng einteilen sollte. Er hatte nur 2.000 Euro abheben können, am Geldautomaten in München. Das musste für längere Zeit reichen.
Nach einer halben Stunde stellte sich Gerald an der Kasse an, mit der langen Unterhose, der Fellmütze, dem Vitamindrink, zwei Schokoriegel und er nahm noch eine Papiertüte dazu. Natürlich bezahlte er in bar, denn es war ihm zu riskant, seine EC-Karte zu verwenden. Hinter ihm stand ein großer Typ mit Sakko und Vollbart. Gerald überlegte, er sollte sich wohl besser auch so einen Vollbart wachsen lassen. Mit dieser schrägen Fellmütze und Bart würde er dann wie ein völlig anderer Mensch wirken. Tarnung ist alles!
Gerald war schon bei seinem Koffer und stopfte sich die neue Unterhose in seine linke Manteltasche, da hörte er hinter sich den Vollbarttypen mit der Kassiererin reden. »Ich hab’ meine Tasche vergessen, warten Sie, ich nehm’ mir den Karton, der da auf dem Boden liegt.«
»Das wird nicht alles reinpassen, wollen Sie nicht eine Tragetasche kaufen?« Es war die gleiche Frau, die mit Gerald den Flughafenscherz gemacht hatte.
»Ich kauf’ doch keine teure Tragetasche. Das geht auch so.« Hektisch schichtete der Typ sein Zeug in den niedrigen Karton, dabei klapperte er mit seinem Autoschlüssel herum, den er schon in der Hand hatte. Gerald wollte gerade mit seinem Koffer los, da drängelte sich der Typ grob an ihm vorbei, den überladenen Karton vor der Brust tragend.
Es kam, wie es kommen musste. Ein großes Glas mit Schattenmorellen kippte ihm weg und landete krachend auf dem Boden. Es zersprang, zahllose Glasscherben, die dunkelrote Flüssigkeit und in alle Richtungen rollende Kirschen breiteten sich aus.
»Kreizkruzifix nocheinmal, verfluchte Scheiße»! Der Typ schimpfte laut und währenddessen fielen ihm auch noch seine Orangen und eine Packung mit Dinkelmehl herunter. Die Mehlpackung platzte auf, der Inhalt vermischte sich mit dem Kirschsaft. Der Mann ging hektisch in die Hocke, stellte den Karton ab und legte seinen Autoschlüssel neben sich auf den Boden. Er fing schon an, die größten Scherben aufzusammeln, aber die Kassiererin reagierte sofort und rief nach einem Lidl-Mitarbeiter, der die Sauerei beseitigen sollte.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Gerald ging ebenfalls in die Hocke und begann die Orangen einzusammeln. Den Autoschlüssel steckte er dabei ganz schnell und unbemerkt in seine rechte Manteltasche.
»Ich helfe Ihnen die Sachen hinauszutragen, kein Problem. Ich habe hier noch eine Papiertüte, da kann ich die Orangen reintun und noch ein paar Kleinigkeiten.« Gerald setzte sich dabei die Fellmütze auf und zog sie sich tief ins Gesicht.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, danke. Mein Wagen steht nicht weit weg.« Während ein Mitarbeiter das Malheur aus Scherben, Kirschen und Mehl vom Boden aufwischte, gingen Gerald mit seinem laut rollenden Koffer und der Vollbarttyp hinaus auf den Parkplatz.
»Wo wollen Sie denn hin, mit ihrem großen Koffer?«
»Ich muss heute noch zum Flughafen. Ist leider ein bisserl umständlich, hier von Anzing aus. Ich nehme dann den Bus nach Poing und von dort aus die S-Bahn.«
»Nach Poing kann ich Sie gerne mitnehmen, ich muss da noch zur BayWa. Ich würde sie am Bahnhof rauslassen, liegt ja auf dem Weg.«
»Danke, das wäre klasse. Ich bin zwar früh genug dran, mein Flug geht erst am frühen Nachmittag, aber diesen Bring-Service nehme ich gerne an.«
Vor einem silberfarbenen Viertürer-Smart begann der Mann hektisch nach seinem Autoschlüssel zu suchen. »Verdammt! Den muss ich drinnen irgendwo liegen gelassen haben. Heute geht aber auch alles schief. Ich bin gleich wieder da.«
Er stellte den Karton mit den Lebensmitteln auf dem Asphalt ab und rannte zurück zum Discounter. Sowie er durch die Eingangstüre war, holte Gerald den Autoschlüssel aus seiner Manteltasche und entsperrte den Wagen. Mit Smarts kannte er sich aus, hatte ja früher selbst einen gefahren. Er wuchtete seinen gelben Koffer auf die Rückbank, setzte sich ans Steuer und startete den Wagen. Der zuverlässige Smart sprang sofort an.
Gerald fuhr los, ohne sich noch einmal umzuschauen. Der Typ war sicher noch damit beschäftigt, suchend auf dem Lidl-Boden herumzukriechen und Rabatz bei der Kassiererin zu machen, da steuerte Gerald den Wagen schon in Richtung Ortszentrum. In Anzing kannte er sich ja aus, viel hatte sich in den letzten dreißig Jahren nicht verändert. Er kreuzte die B12, fuhr Richtung Obelfing. Spontan wählte er als sein Ziel den Tennispark von Sepp Maier aus, da hatte er als Jugendlicher mehr schlecht als recht gespielt, damals mit dem Weingärtner Richard. Der leider viel zu früh verstorben war.
Der Tennispark lag ganz nahe am Ebersberger Forst und da gab es auch einen Parkplatz für die Leute, die im Wald spazierengehen oder joggen wollten. Dort hielt Gerald an. Er grinste zum Spaß breit in den Rückspiegel, weil ihm das Schicksal ganz spontan ein Auto geschenkt hatte. Wie lange er den Smartie würde behalten können, stand allerdings noch in den Sternen. Er hatte keine Ahnung, wie lange es dauern könnte, bis die Anzinger Polizei aktiv werden und ob man den Diebstahl mit Gerald Neumann in Verbindung bringen würde. Das war ihm erstmal auch egal.
Er schraubte den Fahrersitz weit zurück, in Liegestellung, und schloss die Augen. „Augenpflege“ hatte eine frühere Freundin dazu gesagt, das hatte er immer lustig gefunden. Gerald fiel in einen tiefen Schlaf.
Fortsetzung folgt
Abbildung: Christian S auf Pixabay
Völlig richtig, den Lidl als absolutes Highlight von Anzing anno 2023 auszuwählen! Viel mehr ist nämlich nicht mehr geboten. Wenn man sich früher von Markt Schwaben aus dem schönen Anzing näherte, fiel der Blick zunächst malerisch auf Kirche und Friedhof, dann auf ein Wirtshaus rechts (Kirchenwirt), etwas weiter ein Wirtshaus links (die alte Post, zu der es eine Erzählung des berühmten bayerischen Schriftstellers Franz von Kobell gibt – leider ist die Post seit Jahren geschlossen und der schöne Biergarten samt Kastanien restlos ausradiert) und dann folgte rechts die „Schlosskapelle zum Heiligsten Kreuz“, die es zwar auch heute noch gibt, – aber kaum einer weiß, dass sie den Eingang zum einstigen Anzinger Schloss behütete.
Zur Begrüßung am Ortseingang jetzt also ein Kreisel, eine fette Tanke und das Lidl-Logo. So wie überall in Deutschland, Österreich, ja mittlerweile sogar Frankreich und Spanien. Lidl lohnt sich. Aber Anzing?
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