BvsN-11

Fortsetzung von Blog Nr. 248

17. Februar, Freitag, 11.30 Uhr.

Gerald hatte drei Stunden geschlafen. Er fühlte sich nun wieder deutlich besser und verschlang heißhungrig die beiden Schokoriegel, welche er bei Lidl gekauft hatte. Er verließ den Smart und schaute sich vorsichtig um. Ein Stück weiter, auf dem Parkplatz beim Tennispark, standen inzwischen einige Autos mehr. Darunter ein frisch gewaschener schwarzer BMW X3 mit Münchner Kennzeichen. M AX 0497. Da war der Max, vielleicht geboren am 4. April 1997, extra aus München gekommen, um bei der legendären „Katze aus Anzing“ Tennis zu spielen. So hatte sich Bayern-Torhüter Sepp Maier damals selbst genannt.

Gerald öffnete den Kofferraum seines Smart und fand einen kleinen Koffer mit Werkzeug. Er nahm Schraubenzieher in zwei verschiedenen Größen heraus. Er hatte noch nie Autokennzeichen getauscht und war nicht unbedingt ein geschickter Handwerker. Sollte er es wirklich riskieren, sein Handy einzuschalten und sich dazu auf YouTube eine Anleitung ansehen? Die Polizei würde ihn orten können. Aber es ging dann ziemlich schnell ohne YouTube und auch ohne Schraubenzieher. Heute war der Tag des guten Gelingens!

Mit den beiden Smart-Schildern spazierte er lässig zu dem fetten SUV von Max. Kein Mensch zu sehen. Es war durchaus riskant, bei Tageslicht an einem fremden Auto herumzufingern. Hoffentlich war Max noch dabei, seinen Gegner zum Schwitzen zu bringen. Wenn jemand vorbei gekommen wäre, hätte Gerald ganz frech gefragt, ob man wisse, wie man ein Autokennzeichen abnimmt, weil er demnächst einen Termin beim TÜV habe. Aber ein solcher Trick war gar nicht nötig, denn der Parkplatz blieb während Geralds Tauschmanöver menschenleer. Nun hatte der BMW X3 ein Ebersberger Kennzeichen. Ob es Max merken würde? Gerald spazierte zurück zum Smart und fuhr ein paar Straßen weiter. Er wollte es nicht riskieren, dass Max sein Kennzeichen an einem fremden Kleinwagen erspähen konnte.

Gerald schaute hinter die Sonnenblende, ob dort vielleicht zufällig der Fahrzeugschein steckte. Tat er leider nicht. Im Handschuhfach fand er auch nichts Nützliches und erst recht nicht eine Waffe, sowas kam wohl nur in Fernsehkrimis vor. Eine echte Waffe hätte er auch gar nicht haben wollen, weil er sich damit null auskannte. Wenn, dann wäre eine Spielzeugpistole vielleicht ganz nützlich, in bestimmten Situationen. Eine solche ließ sich jetzt zur Faschingszeit sicher auftreiben, vielleicht sogar bei der guten Frau Kettenbichler in der Högelstraße. Den Gemischtwarenladen hatte es schon in Geralds Kindheit gegeben, wie gerne hatte er damals darin herumgestöbert, in den Regalen voller Krusch. Er würde ihr jetzt einfach einen Besuch abstatten.

»Guten Morgen, ich suche für meinen Neffen eine Spielzeugpistole. Er geht am Sonntag auf den Kinderfaschingsball, als Kommissar. Haben Sie sowas? Wenn es echt ausschaut, wäre das auch nicht verkehrt.«

Frau Kettenbichler sah ihn belustigt an. »Soso, echt soll sie auch noch ausschauen! Damit Sie mir damit aber nicht in die VR-Bank spazieren und die Frau Kruschenko bedrohen. Die ist nämlich eine gute Freundin von mir.«

»Die Frau Kruschenko bedrohen! Sowas würde ich doch niemals tun. Und der kleine Max wird das wahrscheinlich auch nicht. Vermutlich verliert er die Waffe sowieso auf dem Faschingsball, er verliert nämlich immer alles, was ich ihm schenke.«

»Da schaun’s her, wie gefällt Ihnen diese? Es ist keine Walther PPK, wie sie der James Bond verwendet, aber die sieht doch ganz echt aus. Vorsicht, da ist auch echte Munition drin.« Frau Kettenbichler zwinkerte ihm zu und Gerald inspizierte das gefährliche Gerät.

»Für Sie im Sonderangebot für 9,90 Euro. Ein Angebot, dass Sie nicht ablehnen können.«

»Das werde ich auch nicht, bin doch nicht lebensmüde!« Gerald lächelte sie an. »Max wird sich sehr freuen. Jetzt braucht er nur noch einen kleinen Trenchcoat, aber dafür ist seine Mama zuständig. Ach, da fällt mir noch etwas ein! Haben Sie auch Rucksäcke? Ich bräuchte einen möglichst großen. Für längere Wanderungen.«

»Bei mir bekommen Sie fast alles, aber das ist schwierig. Sie sollten dafür besser in ein Fachgeschäft gehen. Dort haben Sie eine viel größere Auswahl als bei mir. Ich habe hier nur einen einzigen, der ist allerdings gebraucht. Ein grauer, Eigenmarke von der großen Konkurrenz A. Ich spreche das Unwort nicht aus! Ich verkaufe eigentlich keine Gebrauchtwaren, aber den hat mir mein Bruder hiergelassen, der wollte ihn loswerden, er war ihm zu groß.«

Frau Kettenbichler ging nach hinten und brachte den Rucksack. Ein unauffälliges Teil, offensichtlich sehr gut erhalten. »Neu kostet der nur knapp 30 Euro, Sie bekommen ihn für die Hälfte. Dann ist er weiter.«

»Ihr Geschäft ist ja ein wahres Wunderland. Der ist perfekt für mich. Und auch praktisch, wenn man zum Einkaufen geht und die Hände frei haben will. Den nehme ich. Rucksack und Pistole. Wunderbar! Auf Wiederschaun, Frau Kettenbichler.«

Nun war eine gute Zeit, Eviline einen Besuch abzustatten. Gerald fuhr ein Stück zurück, Richtung Lidl. Dort in der Nähe wohnte sie nämlich. Kurz überlegte er, ob er so frech sein sollte, den Smart auf dem Lidl-Parkplatz abzustellen. Aber er sollte sein Glück vielleicht nicht überstrapazieren — er parkte den Wagen daher in der steilen Friedrich-Merg-Straße, nur hundert Meter vom Haus der Birkls entfernt.

Mit Eviline war Gerald im Anzinger Kindergarten gewesen, vor rund 38 Jahren. In der Grundschule saß sie ein paar Jahre lang nur ein paar Bänke entfernt von ihm. Als Eviline Formen bekam, war Gerald völlig vernarrt in sie und wäre gerne mit ihr zusammen gewesen, aber sie brachte für ihn leider nicht mehr als zurückhaltend freundschaftliche Gefühle auf. Viel zu lange hatte er daran gearbeitet, sie für sich zu gewinnen. Aber wenn etwas zu lange dauert, dann wird in der Regel auch nichts draus, diese Erfahrung hatte Gerald oft gemacht.

Inzwischen war Eviline längst verheiratet, mit einem Cornelius Birkl! Ein komischer Typ — und das Komischste: Er sah Gerald ziemlich ähnlich. Da hätte sie doch gleich ihn, Gerald, nehmen können. Es war allerdings schon mindestens 15 Jahre her, dass er die beiden getroffen hatte, bei einem Klassentreffen war das gewesen. Er hatte diesen Cornelius damals als ein bisschen angeberisch erlebt, zumindest für einen kleinen Angestellten bei einer Schraubenfirma in Feldkirchen.

Gerald konzentrierte sich, dann klingelte er an der Haustüre der Birkls. Eine attraktive Dame im besten Alter öffnete ihm.

»Hallo Evi, kennst du mich noch?«

»Geeerald! Was machst DU denn hier? Jetzt hätte ich dich fast nicht erkannt, mit dieser Fellmütze auf dem Kopf. Wie lange ist das jetzt her, eine Ewigkeit!«

»Jaja, Evi, lang lang ist es her. Das letzte Mal haben wir uns bei dem Klassentreffen gesehen, weißt du noch? Ich habe heute einen freien Tag und hatte morgens irgendwie ein Nostalgiegefühl. Und da dachte ich mir, fährst halt raus nach Anzing und vielleicht ist die Evi daheim.«

»Da hast du Glück, normalerweise bin ich in der Arbeit. Aber heute arbeite ich bloß ein paar Überstunden ab, da hat sich in letzter Zeit einiges angesammelt. Magst reinkommen, auf einen Kaffee?«

»Ja, sehr gerne. Es freut mich wirklich, ich habe immer wieder an dich gedacht.«

Evi führte ihn ins Wohnzimmer und er setzte sich auf die braune Kunstledercouch. Einen großen Fernseher hatten die Birkls, daneben stand ein überdimensionaler Ficus, auf einer gepflegten kleinen Terrasse sah er bunte Kugeln auf Stäben, vor dem Fenster hing ein Windspiel, das sich leicht bewegte. Evi brachte den Kaffee und Kekse.

»Eigentlich ist ja Mittagszeit, aber heute habe ich spät gefrühstückt, deshalb lasse ich das ausfallen. Hättest du Hunger, Gerald?«

»Nein, danke, Evi, ich hatte auch ein gutes spätes Frühstück. Wie geht es dir? Gut siehst du aus. Du scheinst kein bisserl älter geworden zu sein. Erstaunlich. Machst du viel Sport?«

»Du alter Charmeur! Aber der Zahn der Zeit nagt leider auch an mir, die Haare werden langsam grau und die Falten im Gesicht zähle ich schon nicht mehr. Aber ich gehe dreimal die Woche im Forst joggen. Du dagegen schaust — wenn ich das sagen darf — irgendwie mitgenommen aus. Schläfst du zu wenig? Hast du Sorgen? Hast du Familie?«

»Du meinst, wer Familie hat, hat auch Sorgen?« Gerald lachte. »Nein, bei mir ist alles bestens. Ein bisserl Stress im Job, die Kundschaft nervt und will immer was anderes, als ich ihr anbiete. Aber es läuft ganz gut, ich kann mich nicht beklagen. Familie habe ich allerdings keine, ich habe nie mehr eine so tolle Frau gefunden, wie du eine bist.«

»Ach geh, hör auf mit dem Schmarrn! Du bist schlank, hast ein gutes Gesicht, das wird schon noch! Hast du es mal mit Online-Dating versucht? Meine Freundin Amelie hat damit Glück gehabt.«

»Ach nein, mit so einem Quatsch fange ich gar nicht erst an. Nein, ich bin zufrieden, so wie es ist. Alles gut. Wie geht es Cornelius? Du hast ihn doch noch, oder?«

»Na klar, der Lack ist ein wenig ab, aber wir verstehen uns immer noch gut. Fahren gemeinsam im Sommer nach Kroatien, schauen gerne zusammen Filme über den Beamer. Cornelius hat sich ein Heimkino im Keller eingerichtet, daran tüftelt er viel herum. Er müsste eigentlich jeden Augenblick heimkommen, freitags hat er immer schon mittags frei. Freitags frei. Klingt gut, oder?« Evi lachte und Gerald war leider immer noch ein wenig verliebt in sie, wie er feststellen musste.

In diesem Moment hörte Gerald, wie die Haustüre aufgesperrt wurde — wenn man vom Teufel spricht! »Hi Baby!« tönte es aus dem Flur und Gerald sah, wie Cornelius seine dicke Fliegerlederjacke an der Garderobe aufhing.

»Schau mal einer an, wir haben Besuch! Was verschafft uns denn die Ehre?« Cornelius schaute seine Frau mit einem kurzen fragenden Blick an, ohne Wert darauf zu legen, dass der Besucher das nicht mitbekam.

»Das ist Gerald, er besuchte mich spontan. Wir kennen uns schon aus dem Kindergarten und aus der Grundschule.«

»Ah, Gerald, der Name kommt mir bekannt vor!« Cornelius reichte ihm die Hand. »Bist du nicht dieser Grafiker? Eveli hat dich, glaube ich, mal erwähnt. Was machst du in unserem herrlichem Anzingkaff? Das Kettenbichler-Warenangebot studieren?« Cornelius lachte schallend.

»Da war ich tatsächlich zuvor. Den Laden kenne ich noch aus meiner Kindheit, bin doch hier aufgewachsen.«

»Du armer Kerl, hier in Anzing aufwachsen, das muss echt hart sein.« Cornelius grinste.

»Entschuldigt bitte, ihr beide, könnte ich mal auf die Toilette gehen? Kann aber etwas dauern.«

»Du hast Glück, mein Freund. Das Klosett ist gerade nicht besetzt. Nimm dir ruhig Zeit. Was raus muss, soll man gehen lassen.«

Und Evi: »Gleich links neben der Haustüre.«

Gerald ging auf den Flur und tat so, als würde er etwas in seinem Wintermantel suchen, den Evi vorher dort aufgehängt hatte. Aber stattdessen fasste er in die Innentasche von Cornelius’ Lederjacke und hatte sofort die fette Brieftasche in der Hand. Schnell ging er damit in die Toilette. Er musste sich tatsächlich erleichtern, aber währendessen studierte er den Inhalt des edlen Lederteils ausführlich. Alles da: Personalausweis, Führerschein, Scheckkarten, Geld. Nach getanem Geschäft ließ Gerald Cornelius’ Lederportmonnaie in seiner tiefen Manteltasche verschwinden. Dann ging er zurück ins Wohnzimmer. Mittlerweile war der Herr des Hauses gegangen, vielleicht war er wieder in seinem Heimkino und schraubte am Beamer herum. Später würde er verzweifelt darüber grübeln, wo er seine Brieftasche mal wieder hatte liegen lassen.

»Du Evi, ich muss wieder weiter. Habe heute noch vor, ausführlich im Forst spazieren zu gehen. Frischluft tanken, davon gibt es ja in der Stadt nicht allzuviel. Aber es war schön, dich gesehen zu haben, nach so langer Zeit. Sollten wir wiederholen.«

»Klar, Gerald, du kannst immer gerne vorbeikommen, wenn du in Anzing bist. Aber bitte rufe das nächste Mal vorher an, denn das ist heute reiner Zufall, dass ich daheim bin.«

Gerald zog seinen Wintermantel an, gab Evi einen schnellen Kuss auf die Wange und lief zügig zu seinem Auto. Goodbye Eviline, wir werden uns so schnell nicht wiedersehen.

Fortsetzung folgt

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Abbildung: Paul Ma auf Pixabay