Fortsetzung von Blog Nr. 253
21. Februar, Dienstag, 18.30 Uhr.
Dietmar Bronzo versuchte sich mit seiner Eisenbahnanlage abzulenken. Er hatte sich für die kleine schwarze Dampflok über ebay noch ein paar lange Waggons besorgt, die Strom ebenfalls über die Schienen bezogen und von innen leuchteten. Das sah vor allem abends magisch aus — eine Modelleisenbahn mit kleinen Lichtquellen fängt erst so richtig an zu leben. Das mit den Waggons war wunderbar — solange sie nicht an die Lok angekoppelt waren und von ihr gezogen wurden. Ab dem Moment entgleisten sie nämlich ziemlich schnell in der Kurve, auch bei niedrigstem Tempo. Bronzo verwendete seine ganze Geduld darauf, die Waggonräder exakt auf die Schienen aufzusetzen. Aber keine Chance, die kleinen Scheißdinger kippten ständig in das Kunstgras neben den Schienen. Es war wirklich ärgerlich. Er nahm die Waggons schließlich von den Schienen und stellte sie auf den kleinen Schrottplatz, den er sich kürzlich als witzige Ergänzung zu seiner alpinen Miniaturlandschaft hatte kommen lassen. Dort leuchteten sie nicht mehr, aber das passte ja auch zu ihrer neuen schrottigen Existenz.
Das Entgleisen und das Wegstellen der Waggons auf den Schrottplatz war eine Parallele zu seiner aktuellen beruflichen Situation. Bronzo war ebenfalls entgleist und — noch vorübergehend — ausrangiert worden. Hockte nun daheim, soff zuviel Aperol Spritz und war mies gelaunt. An allem war nur dieser Dreckskerl Neumann schuld. Der ihn darüber hinaus auch noch piesackte mit hämischen Postsendungen. Was machte der Typ in Mainz? Als Fastnachtsfan hätte er ihn keinesfalls eingeschätzt. Oder wurde Bronzo mit Mainz verarscht? Wie sollte er das wissen können? Wo war Neumann wirklich?
Silke rief ihn von oben. »Schaaatz, das Essen ist fertig. Kommst du?«
Dietmar schaltete den Strom-Zentralschalter der Eisenbahn aus und stieg die Kellertreppe hoch in die Wohnung.
»Was gibt es denn Gutes?«
»Nichts Aufwändiges. Nur Gebackenen Camembert mit Preiselbeeren, das hat uns ja bisher immer geschmeckt. Dazu gibt es Tomatensalat mit Zwiebeln.
»Einwandfrei, Mäusle. Demnächst werde ICH was kochen, Zeit habe ich nun ja ohne Ende dafür. Das berühmte Bronzogulasch, was hältst du davon?«
»Davon halte ich sehr viel, dein Gulasch ist ja sensationell.«
»Ich hätte Koch werden sollen, anstatt Kriminaler. Dann hätte ich mir auch nicht diesen saublöden „good cop, bad cop“-Zirkus angewöhnt bei den Verhören. Vielleicht wäre ich als Koch aber ein genauso widerliches Monster wie als Kommissar, das kann gut sein.«
»Ach geh, Schatz, du bist doch kein widerliches Monster. Du bist allerhöchstens mein liebes Monster.«
»Das Monster kann trotzdem nicht völlig untätig bleiben. Ich muss Neumann aufstöbern, dass will ich unbedingt. Nach dieser zweiten frechen Lieferung erst recht. Der meint wohl, der kann sich jetzt alles erlauben. Aber Übermut kommt vor dem Fall.«
»Das ist wohl wahr, mein Schatz, aber Neumann zu finden, ist doch so gut wie unmöglich. Der kann inzwischen überall sein.«
»Mäusle, der Umschlag hat den Mainzer Poststempel. Er könnte sich also im Postleitzahlenbereich Mainz aufhalten. KÖNNTE!«
»Gibt es eigentlich irgendwelche Details, die seine Freunde von der Schafkopfrunde über Neumann erzählen konnten?«
»Einer von denen wusste, dass Neumann im Münchner Osten aufgewachsen ist, in Anzing. Dort wohnte er mit seinen Eltern, bis sie nach München gezogen sind, als er ein Teenager war.«
»Vielleicht ist er nach Anzing gefahren? Vielleicht kennt er dort noch jemanden aus seiner Kindheit? Wo er sich verstecken kann.«
»Das ist auch möglich. Möglich ist das schon. Das Problem ist: Alles ist möglich. Wie so oft, bei komplizierten Suchaktionen.«
»Vielleicht rufst du einfach mal bei der Polizei in Anzing an, ob dort was Auffälliges passiert ist?«
»In Anzing gibt es keine Polizei, die nächste Polizeiinspektion ist in Poing.«
»Dann ruf’ doch dort mal an.«
»Ich weiß nicht, ich bin ja beurlaubt und darf mich nicht mehr in diese Sache einmischen. Leitinger hat mich von diesem Fall abgezogen, er steigt mir auf den Hut, wenn er rausfindet, dass ich anfange herumzuschnüffeln.«
»Stimmt, dann lasse es gut sein, mein Schatz. Entspanne dich, lasse deine kleine Lok kreisen oder lege dir eine Frank Sinatra-Platte auf. Genieße deine freien Tage, die werden schneller vergehen, als du glaubst.
»Naja, ein kleiner Anruf in Poing.« Bronzo suchte die Nummer der Poinger Polizei heraus.
»Grüß Gott, hier spricht Kommissar Dietmar Bronzo aus München. Mit wem spreche ich?«
»Polizeihauptmeister Meise. Was kann ich für Sie tun, Kollege?«
»Ich bin auf der Suche nach einem gewissen Gerald Neumann. Er ist flüchtig, nachdem er in München-Schwabing zwei Menschen betäubt und ausgeraubt hat. Neumann hat als Kind in Anzing gewohnt. Es gibt die Vermutung, dass er sich in diesen Ort zurückgezogen hat. Meine Frage: Ist etwas Außergewöhnliches vorgefallen, bei euch draußen?«
»Das ist ja interessant, Herr Bonzo.«
»Bronzo. Mit r.«
»Okay, Kommissar Bronzo, es ist was passiert in Anzing. Es wurde ein Auto gestohlen, auf dem Parkplatz beim Discounter Lidl. Ein silberfarbener Smart. Der Besitzer des Wagens hat den Dieb grob beschreiben können. Er trug eine Fellmütze.«
»Ach, was Sie nicht sagen. Das ist ja ziemlich aufschlussreich«
»Und noch was: Ebenfalls in Anzing wurden an einem BMW X3 die Kfz-Schilder gestohlen, das heißt, gegen die Schilder des Smart ausgetauscht. Der gestohlene Wagen hat nun das Kennzeichen M AX 0497.«
»Können Sie mir die Beschreibung von diesem Mann mit Fellmütze schicken, per E-Mail an dietmar.bronzo@polizei.bayern.de.«
»Kein Problem, kommt in Kürze. Auf Wiederhören, Kollege«. Polizeihauptmeister Meise legte auf.
»Mäusle, du hast mal wieder den richtigen Riecher gehabt. DU hättest Kommissarin werden sollen. Neumann war mit großer Wahrscheinlichkeit in Anzing und hat dort einen Wagen geklaut. Und bei diesem sogar andere Kfz-Schilder drangemacht. Der Mann mausert sich.«
»Ob er sich noch in Anzing aufhält?«
»Das könnte natürlich sein. Aber wie hat er es geschafft, eine Postsendung aus Mainz an mich zu schicken? Dazu muss er noch am Freitag oder Samstag hochgefahren sein. Ausgerechnet Fastnacht-Mainz. Neumann hat Humor, das muss ich ihm lassen.«
»Oder er kennt jemand in Mainz, der das Kuvert für ihn präpariert und aufgegeben hat.«
»Das muss dann aber schon ein sehr guter Freund von ihm sein, der so einen Unsinn mitmacht. Ich weiß nicht, das kommt mir nicht realistisch vor, Mäusle.«
»Wenn er auf dem Weg dorthin irgendwo getankt hat, vielleicht wurde das dann von der Tankstellenüberwachungskamera aufgenommen?«
»Das ist eine sehr aufwändige Recherche. Das kann ich nicht selbst machen, noch dazu bei meiner Beurlaubung. Und Leitinger darauf zu stoßen, darauf habe ich keine Lust. Der würde bloß fragen, wie ich auf Mainz komme. Dieses Fass mache ich bestimmt nicht auf. Die Info mit Anzing gebe ich auch nicht weiter. Die sollen sehen, wie sie ohne Bronzo klarkommen.
»Willst du nach Mainz fahren?«
»Das ist sinnlos ohne weitere Details. Der Postleitzahlenbereich 55 für Mainz ist groß und selbst, wenn es nur die Stadt wäre — dort Neumann zu treffen, wäre wie ein Sechser im Lotto.«
»Dann gibt es nur eines, mein Schatz: Genieße deine freie Zeit, bis Neumann dir selbst mitteilt, wo er sich aufhält.« Silke lachte.
»Das schmeckt mir nicht, aber mir bleibt ja nichts anderes übrig.«
»Ich muss morgen früh jedenfalls zum Flughafen. Hoffentlich sitzt nicht wieder Fortezza drin!«
»Das wünsche ich dir, Mäusle.«
Fortsetzung folgt
Abbildung: Kevin Phillips auf Pixabay