BvsN-16

Fortsetzung von Blog Nr. 254

22. Februar, Mittwoch, 9.30 Uhr.

Gerald spazierte zum Smart, welcher nicht weit von der Pension Rothemund entfernt stand. Er wollte seinen Rucksack holen, für eine kleine Wanderung am See entlang. Unter dem Scheibenwischer steckte ein Strafzettel. Er hatte den Wagen unvorsichtigerweise in einer Halteverbotszone geparkt. Das war an und für sich keine Katastrophe, aber in seiner Situation nicht ganz ungefährlich. Denn auf dem rosa Schein war die Kfz-Nummer vermerkt, dazu die Automarke und vor allem aber der Ort und die Straße, in welcher der Smart den Strafzettel erhalten hatte.

Gerald wollte das Verwarnungsgeld nicht begleichen — eine zweite Zahlungsaufforderung mit der Post würde wohl irgendwann BMW-Max bekommen, dessen Wagen allerdings seit vergangenem Freitag die Landkreis Ebersberg-Schilder des Smarts trug. Wenn Max das nicht schon bemerkt und die Polizei informiert hatte.

Die Wohnadresse von BMW-Max auf der Verwarnung juckte Gerald nicht, aber der Hinweis „Stefan-Pochner-Str. 23, Meersburg“ war unangenehm. Denn diese Daten wurden ja vielleicht elektronisch gespeichert. Wenn Bronzo in der polizeilichen Datenbank nach einer Eintragung von „M AX 0497“ suchen würde, käme damit auch der jetzige Standort des Wagens heraus. Oder nicht? Kam ein solch harmloses Vergehen wie Falschparken überhaupt in eine Datenbank? Und hätte die Polizei das Recht, deutschlandweite Nachforschungen zu betreiben? Gerald wollte auf jeden Fall vom worst case ausgehen, zu seiner eigenen Sicherheit.

Man würde vielleicht als erstes die Hotels und Pensionen aufsuchen, die in oder in der Nähe der Stefan-Pochner-Straße lagen. Über kurz oder lang musste Gerald deshalb einen Tapetenwechsel vollziehen. Das passte ihm überhaupt nicht — weil er Babs kennengelernt hatte. Mist! Und das alles wegen so einem lächerlichen Strafzettel. Gerald lief zurück in die Pension und auf sein Zimmer. Er packte eiligst seinen gelben Koffer und ging damit an die Rezeption, wo die Inhaberin der Pension saß und sich mit irgendwelchem Bürokram befasste.

»Guten Morgen, Frau Rothemund. Eigentlich wollte ich ja noch ein paar Tage hier bleiben, ich finde ihre Pension und mein Zimmer sehr gemütlich. Aber ich habe leider vor einer halben Stunde eine Nachricht bekommen, dass meine liebe Mama gestürzt ist. Sie hat sich die rechte Hand gebrochen. Ich muss daher zurück nach München fahren, damit ich mich um sie kümmern kann.«

»Oje, Herr Birkl, das tut mir aber leid! So ein Unglück! Wie alt ist denn ihre Frau Mama?«

»Sie ist 86 und eigentlich topfit. Aber ich kann sie jetzt auf keinen Fall alleine lassen.«

»Das verstehe ich, ich mache Ihnen gleich die Rechnung fertig, für die fünf Tage Übernachtung.«

»Eine große Bitte hätte ich noch. Könnte ich an Ihrem PC mal für fünf Minuten ins Internet gehen? Ich muss da dringend was googeln, wegen der Klinik, wo meine Mama gerade ist.«

»Natürlich, Herr Birkl. Gar kein Problem. Kommen Sie herüber, ich bin derweil mal kurz weg.«

Als die Rothemund den Platz für ihn freigemacht hatte, startete er Google Maps. Ihm war spontan eine Idee gekommen, was er nun zu tun hatte.

Eine Viertelstunde später saß Gerald mit seinem kompletten Gepäck im Smart und fuhr Richtung Nordwesten. Es waren 148 km bis nach Dußlingen. Die wollte er so schnell wie möglich hinter sich bringen. Er passierte den östlichen Schwarzwald, aber für Sightseeing oder einen gemütlichen Aufenthalt beispielsweise in Bad Dürrheim fehlte ihm jetzt absolut der Sinn. Er wollte um die Mittagszeit in Dußlingen sein. Kurz vor Oberndorf am Neckar schnitt er bei einem riskanten Überholmanöver einen Laster, der ihn wie wild anhupte. Das war knapp gewesen. Gerald fluchte, er musste sich konzentrieren, dieser Aschermittwoch lief leider völlig anders, als er sich das gedacht hatte.

Nach knapp 90 Minuten kam er in Dußlingen an. Er musste in die Wilhelm-Schwerter-Straße 4. Und das ohne Navi. Gerald wollte ja sein Smartphone ausgeschaltet lassen, obwohl es ihn in den Fingern juckte, das Ding endlich wieder hochzufahren. An einer Tankstelle hatte er sich einen Falkplan gekauft. Mein Gott, wie altmodisch und beschwerlich, sich mit einem gefalteten Plan aus Papier zu orientieren. Während er am Steuer saß, ging das gar nicht, klar. Deshalb musste er dreimal anhalten, um sich in Dußlingen zurechtzufinden. Schließlich fand er den Laden, dieser war außen quietschgelb gestrichen, vor den großen Schaufenstern standen sie Parade: E-Bikes in allen Preisklassen. Der Inhaber hieß Erich Borkheimer, so hatte es ihm Frau Rothemunds PC verraten. Gerald parkte den Smart ein paar Seitenstraßen entfernt von dem Geschäft.

»Guten Tag, Herr Borkheimer, ich möchte mir ganz spontan ein E-Bike kaufen.«

»Da sind sie bei mir goldrichtig. Wir haben eine große Auswahl. Was darf’s denn sein? Ein myBoo-Bambusrad, ein EoVolt-Faltrad oder das Econic One, unser preisgünstigstes Pendler-Bike, aktuell mit dem sensationellen Frühjahrspreis, unter 2.000 Euro.«

»Ich bin bisher nur ein normales Tretrad gefahren und daher auf Ihre Empfehlung angewiesen.«

»Treten müssen Sie bei meinen Pedelecs schon auch noch.« Borkheimer sah ihn verschmitzt an. »Aber Sie werden von dem Unterschied zu einem normalen Rad erstaunt sein. Haben Sie noch nie ein E-Bike probiert?«

»Nein, aber das würde ich gerne ändern.«

»Können Sie bei mir. Also: das EoVolt ist so zusammenfaltbar, dass sie es problemlos im Kofferraum transportieren können.«

»Bei einem Smart auch?«

»Uii, das könnte eng werden. Müssten wir probieren.«

»Ach, der Transport ist mir nicht so wichtig. Ich brauche ein Rad für längere Touren, es können auch schon mal 60 Kilometer am Tag sein.«

»Dann ist ein Klapper nichts für Sie, das ist klar. Wie hoch ist denn ihr Budget?«

»Was müsste ich denn ausgeben, für ein gutes zuverlässiges Trekking-Rad?«

»SIE brauchen das Volta-XK-9100. Das Preis-Leistungsverhältnis ist sagenhaft. Aktuell 3.999 Euro. Mit diesem Rad werden sie jahrelang glücklich sein. Es ist unser meistverkauftes Modell. Da schauen Sie her, hier steht es.« Borkheimer deutete auf ein robust wirkendes Rad mit einem Rahmen in dunklem Türkis.

»Die Farbe gefällt mir schon mal. Wissen Sie, ich bin Grafik-Designer, da radelt das Auge mit.«

»Sie müssen es aber immer gut absperren. Denn so ein Rad gefällt vielen — auch denen, die es nicht bezahlen wollen.«

»Könnte ich damit eine kurze Probefahrt machen, einmal die Hauptstraße rauf und wieder runter?«

»Das müssen Sie sogar! Sonst würde ich es Ihnen nicht verkaufen. Können Sie mir einen Wertgegenstand da lassen? Ihr Personalausweis oder der Führerschein reicht mir.«

»Klar, ich lasse Ihnen gerne beides da.« Gerald überreichte Borkheimer die Dokumente aus der Brieftasche von Cornelius Birkl. Borkheimer sah nur kurz drauf, dann steckte er die Dokumente in eine Hülle und legte sie neben seinen PC. Der Führerschein war im Jahr 2001 ausgestellt worden. Zum ersten Mal war Gerald froh, dass ihm Cornelius so ähnlich sah.

»Setzen Sie sich mal drauf. Dann stelle ich Ihnen die Sattelhöhe ein.«

Borkheimer erklärte ihm dann noch die Gangschaltung und die Einstellmöglichkeiten für den Motor. »Sie haben zur Auswahl: Eco, Tour, Sport oder Turbo. Eco ist am sparsamsten, macht aber keinen Spaß. Tour empfehle ich für gerade Strecken. Sport bei starken Steigungen. Turbo, wenn sie ganz faul sein wollen. Der Aku ist voll geladen. Sie könnten also nach dem Kauf einen ganzen Tag auf dem Volta-XK verbringen.«

»Super! Dann düse ich mal mit „Tour“ los. Ich bin gleich wieder da. Aber ich denke, das E-Bike ist so gut wie gekauft.«

»Das höre ich gern. Na dann, viel Spaß auf der Hauptstraße.«

Gerald radelte direkt in die Seitenstraße, wo der Smart stand. Er holte den Kettenbichler-Rucksack heraus, der bereits mit den allernötigsten Kleidungsstücken aus seinem Koffer und mit seinem Kulturbeutel gefüllt war. Außerdem klemmte er eine Plastiktüte mit zwei Paar Schuhen unter den Gepäckträger. In seinem Wintermantel hatte er seine Wertsachen. Das Portemonnaie von Cornelius ließ er im abgesperrten Smart, das Geld hatte er schon längst herausgenommen. Er startete sein schönes neues E-Bike und fuhr in nördlicher Richtung. Es waren ungefähr acht Kilometer bis zum Tübinger Hauptbahnhof.

Es wehte ein frischer Wind, Gerald war froh um seinen treuen Wintermantel und die gute Lidl-Fellmütze. Das Bike war der Hammer, er hätte sich so ein Gefährt schon viel früher kaufen sollen. Auch diesmal musste er trotz der Straßenbeschilderung ein paar Mal anhalten, um den Falkplan zu studieren. So langsam gewöhnte er sich aber wieder an diese Art der Orientierung.

In Tübingen hatte er leider gar keine Zeit, um sich die prachtvolle Altstadt am Neckar zu Gemüte zu führen. Das war zwar schade, aber solchen Vergnügungen konnte sich der eilende Desperado aus gutem Grunde nicht hingeben. Am Hauptbahnhof kaufte er ein Ticket für sich und das Fahrrad. Um 14.05 Uhr würde der Zug zurück zum Bodensee abfahren, das Ziel war der Bahnhof in Friedrichshafen. Bis dahin hatte er noch eine Viertelstunde, Zeit für zwei schnelle Hamburger und eine Cola Zero. Überhaupt: Das war heute der aktivste Aschermittwoch seines Lebens gewesen — und das Highlight kam ja erst noch. Gerald freute sich auf Babs.

Fortsetzung folgt

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Abbildung: Zinkl