Fortsetzung von Blog Nr. 255
22. Februar, Mittwoch, 14.05 Uhr.
Die Zugfahrt nach Friedrichshafen dauerte fast drei Stunden, eigentlich war also genügend Zeit für ein ausführliches Nickerchen. Das nagelneue E-Bike wollte Gerald dabei aber auch nicht außer acht lassen, er hatte noch kein Schloss dafür. Das war das erste, was er sich am Zielort besorgen würde, zusammen mit einer geräumigen Gepäckträgertasche. Nein, das allererste würde eine Prepaidkarte sein, für sein iPhone. Damit er vom Bahnhof Friedrichshafen aus googeln und navigieren konnte, wo sich im Ort ein Fahrradladen befand.
Von Friedrichshafen nach Meersburg waren es ungefähr 17 Kilometer, also eine Stunde Radeln. Mit dem Elektrorad ein Katzensprung. Nach seiner groben Schätzung würde er dort dann spätestens um 18.30 Uhr ankommen. Besonders chic machen für sein Abendessen mit Babs würde schwierig werden, nachdem er sich am Morgen von Frau Rothemund verabschiedet hatte — und in Dußlingen von den meisten seiner Klamotten. Um den häßlichen gelben Koffer trauerte er nicht. Reduzierung aufs Wesentliche war ab jetzt angesagt!
Eine Bleibe für heute Nacht hatte er noch nicht. Der Auszug aus der Pension Rothemund war vielleicht etwas voreilig gewesen, aus übertriebener Panik, von der Polizei aufgestöbert zu werden. Wegen einem banalen Strafzettel! Dass er keinen Wagen mehr besaß, in welchen er sich bei Bedarf zurückziehen konnte, war schon ein Verlust. Auf der anderen Seite fühlte sich Gerald nun aber auch geschützt vor Blitzerkameras und vor Kontrollen, bei denen Führer- und Fahrzeugschein verlangt werden würden. Er war ein Stück anonymer geworden und auch flexibler — ein Fahrrad konnte man schnell überall anketten. Für ein Auto musste man immer erst einen legalen Abstellplatz finden.
Geralds neues Leben erforderte sorgfältiges Planen im Voraus, trotz aller Akzeptanz von spontanem und schnellem Handeln, so wie es bei der Smartübernahme am letzten Freitag gewesen war. Das Wort „Diebstahl“ wollte er aus seinem Kopf verbannen. Gerald „übernahm“ oder „lieh“ lieber — reine kreative Auslegungssache.
Im Zug hatte er nun auch ausreichend Zeit, darüber nachzudenken, ob er Babs reinen Wein über seine Situation einschenken sollte. Da sie sich noch kaum kannten, war es für ihn unmöglich einzuschätzen, wie sie reagieren würde, wenn er sich ihr plötzlich als flüchtiger Krimineller präsentierte. Schwierig. Er wollte sie keinesfalls beunruhigen. Gerald beschloss, erst einmal abzuwarten, wie dieses zweite Date heute Abend laufen würde. Nur nichts überstürzen.
»Geiles Teil! Sieht sauneu aus. Frisch importiert?«
Der Typ, der das fragte, hatte sein Käppi verkehrt herum auf, ein verpickeltes Gesicht und riesige Löcher im Kniebereich seiner verwaschenen Jeans.
»Das ist aus Dußlingen. Die haben da einen super Laden, mit kompetenter Beratung. Kann ich echt empfehlen.«
»Das nützt mir nichts, Kollege. Ich kann mir so was Nobles never leisten. Never. Was hast du dafür hingelegt?«
»Dreitausendneunhundertneunundneunzig.«
»Boah, da bekomme ich ja einen gebrauchten Benz für. Das ist übel happig.«
»Naja, es hat AUCH einen Motor, nur kein Gaspedal. Ich bin kein Krösus, aber das war noch drin. Nach einer geilen Probefahrt wollte ich es einfach nicht mehr hergeben.«
»Ich glaube, so ein Teil bekommst du auch in Friedrich. Im 18 Grad. Die haben sogar noch teurere Dinger da stehen.«
»Gut, dass du das sagst, ich brauche noch ein stabiles Kettenschloss. Sonst ist es in nullkommanix weg, das Wunderding.«
»Darauf kannst du Gift nehmen, ich würde es sofort abtransportieren. Boah, diese Farbe. Amtlich! Echt amtlich.«
»Kannst du darauf aufpassen, während ich ein Nickerchen mache?«
Der Typ sah Gerald grinsend an. »Du machst mir Spaß, Kollege. Ich hebe dir das Teil in Friedrichshafen aus dem Zug und fahre dann schon mal voraus, während du noch pennst.« Er kicherte mit einer hellen Fistelstimme. Dann hob er die rechte Hand zu einer „Give-me-five“-Geste. Gerald schlug ein. Zum Schlafen würde er jetzt wohl nicht mehr kommen, obwohl das Bürschchen ziemlich harmlos schien.
Noch am Bahnhof in Friedrichshaben modifizierte er sein Handy mit einer Prepaidkarte, dann radelte er zu dem „18 Grad“-Laden und erledigte die Einkäufe fürs Rad: eine stabile Abus-Kette und geräumige Satteltaschen. Zum Glück war der Laden hervorragend ausgestattet und so konnte er sogar ein Ladekabel für den Akku und einen Akku-Schlüssel kaufen — das war in Dußlingen natürlich nicht möglich gewesen.
Es war 17.45 Uhr. Damit blieb noch Zeit für einen schnellen Besuch im Friedrichshafener Bodensee Center. Dort kaufte er ein dunkelblaues Hemd, so würde er bei Babs knitterfrei aufschlagen können. Weil sein Siebentagebart inzwischen anfing zu jucken, erwarb er auch noch einen neuen Rasierapparat von Panasonic. Glücklicherweise gab es in der Toilette vom Bodensee Center eine Steckdose. Dort rasierte er sich gründlich und pfiff damit vorerst auf eine Vollbarttarnung.
So aufgefrischt stieg er um 18.30 Uhr auf sein Volta-XK und machte sich auf den Weg gen Westen. Die Sonne war mittlerweile untergegangen, es wurde schnell dunkel, aber nun hatte er ja im Handy Google Maps zur Verfügung. Das Wetter war okay für Februar, ziemlich kalt war es, doch zumindest regnete es nicht. Fahrradfahren bei Regen wäre ätzend. Über kurz oder lang musste er sich aber wohl mit einem Regenponcho ausstatten. Bei den neuen Gepäckträgertaschen hatte er nicht gespart, die waren wasserdicht und sehr geräumig. Den Rucksack konnte er nun entlasten. Mit diesen großen Satteltaschen hätte er deutlich weniger Kleidungsstücke im Smart zurücklassen müssen — aber solche hatte er in Dußlingen ja nicht kaufen können. Egal, er würde sich halt neu einkleiden, in den nächsten Tagen. Noch besaß er genügend Geld. Aber diese Sache schwebte wie ein Damoklesschwert über ihm: Wie sollte er vorgehen, wenn ihm die Kohle ausgehen würde? Wieder versuchen, fremde Brieftaschen zu „übernehmen“? Für einen Bankraub fehlte ihm die Kompetenz. Ungute Gedanken, die er besser vorerst ignorierte.
Fünfzehn Minuten vor seinem Date war Gerald wieder in Meersburg. Er zog sein neues Hemd an und rollte mit dem Volta-XK zu der Stelle, wo er gestern das erste Mal Babs getroffen hatte. Sie war pünktlich um fünf nach acht da. Alleine dafür fand er sie schon großartig.
»Hi!« Babs lachte ihn an. »Ist das dein Rad? Sieht ja toll aus.«
»Hi Babs, ich hatte dir ja noch gar nicht erzählt, dass ich meinen Smart in München gelassen habe. Ich möchte mein Sabbatjahr mit ganz viel frischer Luft füllen, deshalb habe ich mir dieses E-Bike gekauft und bin mit dem Zug nach Meersburg gekommen. Allzuviel Gepäck kann ich damit natürlich nicht transportieren, aber ich dachte mir, wenn ich was brauche, wird es halt unterwegs angeschafft.«
»Abenteuerlich, Gerald! Jetzt im Frühjahr kann es aber schon noch ziemlich kalt und windig werden. Und regnerisch natürlich.«
»Ja klar, aber ich bin robust. Übrigens, falls du dich wunderst, dass ich auch mein ganzes Gepäck mitgebracht habe. Eigentlich wollte ich ja heute früh weiterziehen, in Richtung Stein am Rhein. Ich war jetzt für fünf Übernachtungen in der Pension, das fand ich genug. Aber nun ist mir ganz zufällig eine schöne Schweizerin dazwischen gekommen.«
»Soso. Wo übernachtest du dann heute Nacht?« Sie lächelte ihn schelmisch an.
»Hier auf der Parkbank natürlich, wo denn sonst. Aber erstmal wird schön Fisch gespeist, gell? Welches Lokal hast du für uns ausgesucht, ich habe einen Riesenhunger. Bin heute den ganzen Tag mit dem Bike herumgedüst und hatte zwischendrin nur mal eine McD-Brotzeit.«
»Also, in der Meersburg Seepromenade ist es sehr gemütlich und für Fischgerichte auch zu empfehlen. Ich habe uns einen Tisch reserviert, für halb neun.«
»Spitze, dann können wir da ja langsam hinspazieren. Du darfst aber auch mit meinem Radl vorausfahren, wenn du magst.«
»Ein verlockendes Angebot, Gerald. Ich hänge mich lieber wieder bei dir ein.«
Das Restaurant war nicht sehr weit entfernt und sie bekamen einen schönen Eckplatz. Die beiden nahmen als Vorspeise Krabbencrostini, danach wählte Babs das Felchenfilet und Gerald das Zanderfilet. Es gab eine reiche Auswahl an Beilagen, wie Süßkartoffelpommes, schwarzen Reis oder Kohlrabi.«
»Und hast du denn schon einen genauen Plan, wohin deine Reise in den nächsten Tagen und Wochen gehen soll, Gerald?«
»Ach, eigentlich nur grob — ich bin da absolut flexibel. Wie gesagt, erst mal Stein am Rhein und dann westlich weiter zum Rheinfall von Schaffhausen. Den wollte ich mir schon immer mal anschauen, da kann man mit dem Kanu runterfahren, habe ich gehört.«
»Du bist witzig. Ich war da schon. Niagara mini, aber trotzdem sehr beeindruckend.«
»Momentan bin ich allerdings etwas ratlos, wegen meiner Reisepläne. Jetzt sind wir gerade mal dabei, uns näher kennenzulernen. Was ich sehr schön finde. Und deshalb bin ich gar nicht so begeistert, gleich wieder weiterzuziehen.«
Sie nahm seine Hand. »Ich fühle mich auch sehr wohl mit dir.« Und nach einer kleinen Pause: »Ich glaube, ich kann dich heute Nacht nicht auf der Parkbank schlafen lassen. Du kommst mit zu mir, ich habe eine bequeme Couch. Magst du?«
»Ich kann mir gerade nichts Schöneres vorstellen, gnädige Frau« Er küsste sie zart auf die Hand und sie ihn auf die Backe.
Fortsetzung folgt
Abbildung: Anrita1705 auf Pixabay