Fortsetzung von Blog Nr. 258
23. Februar, Donnerstag, 20.30 Uhr.
Gerald lag in Babs’ Bett und wurde von Schüttelfrostattacken heimgesucht. Es wunderte ihn nicht. Erst die lange kalte Regenradelei, dann schwitzend in der Umkleidekabine, das Herumsitzen im kühlen Treppenhaus und schließlich auch noch die Rückfahrt ohne Energie im Akku, erneut bei Regen. Von dem Besuch im Outlet hatte er Babs berichtet, den Vorfall mit Bronzo erzählte er ihr natürlich nicht.
»Tut mir echt leid, Babs! Ich habe das Februarwetter tatsächlich voll unterschätzt. Ich hoffe, dass ich morgen wieder fit bin.«
Statt ihm zu anworten, zog sie sich ganz aus und schmiegte sich im Bett eng an ihn. Er spürte Ihre Brüste und Schenkel. »Du bist der erste, der diese Wohnung betreten hat, seit ich hier vor einem halben Jahr eingezogen bin. Außer meiner Freundin Mira. Aber die lag nicht in diesem Bett mit mir.« Sie sprach ganz nah und leise zu ihm.
»Nun hast du einen Münchner mit Schüttelfrost hier. Ob du dich damit verbessert hast?« Gerald lächelte schief.
»Oh, glaube mir, das ist eine Verbesserung. Siehst du die schwarze Wand hinter dem Fenster?« Sie meinte die Nacht. »Ich mag es nicht, mit ihr alleine zu sein. Kennst du das Gefühl von Einsamkeit? Ich spüre sie hier drin.« Sie deutete auf ihren Bauch.
Er strich ihr sanft über den Nabel. »Dort?«
»Ja. Es ist ein Gefühl aus meiner Kindheit. Ich bin sehr viel für mich alleine gewesen, meine Eltern waren beide berufstätig. Ich erinnere mich an die Nachmittage, an jene mit dem grauen Himmel hinter den Fenstern und dem Gurren der Tauben. Ich konnte diese Geräusche nicht leiden. Es war ja eigentlich alles in Ordnung, aber mir war, als wäre die Zeit eingefroren. Ich spürte es im Bauch, es war ein Gefühl von Schwermut, so als wäre ich alleine nicht vollständig. Als meine Mutter dann endlich von der Arbeit heimkam, ging das Gefühl weg. Ich hatte es später auch immer wieder mal als Jugendliche und sogar während meines Studiums auf der HWZ in Zürich, in welcher ich die meiste Zeit Single gewesen bin.
»Hattest du dort keine Freunde?«
»Doch, schon. Sogar sehr nette. Aber ich habe mir immer jemanden gewünscht, bei dem ich das Gefühl haben könnte, er würde meine Verlorenheit wegzaubern, jemanden, der die graue Himmelswand zur Seite schiebt, um Licht und Freude hereinzulassen. Das klingt armselig, ich weiß. Als ich Ronald kennenlernte, schien ich dieses Schwermutsgefühl überwunden zu haben. Ich fühlte mich ausgeglichen, sogar glücklich. Du darfst das aber bitte nicht falsch verstehen. Ich bin ganz gewiss keine Klette in einer Beziehung. Es ging mir nie darum, ständig bei Ronald zu sein, mir reichte schon das Wissen, dass wir zusammen waren, dass wir uns aufeinander verlassen konnten.«
»Als ich dich am Faschingsdienstag so frech angemacht habe. Wieso hast du mir danach trotzdem diesen Zettel mit deiner Handynummer gegeben?«
»Ich hätte es beinahe nicht getan. Beinahe. Aber irgendwas an dir hat mich angesprochen. Nicht deine Frechheit, aber deine Entschuldigung danach und diese Bemerkung „den schönen Tag noch schöner abschließen“. Das hatte so etwas Aufrichtiges an sich, verbunden mit einer positiven Einstellung zum Leben. Das hat mir gefallen.«
Gerald dachte sich sofort, ach wenn sie nur wüsste, von wegen Aufrichtigkeit und positive Einstellung!
»Und wie ist es jetzt, wenn du die Tauben hörst?«
»Seitdem ich dich kenne, gurren keine Tauben in meinem Kopf und dem Bauch geht es auch ziemlich gut. Aber ich bin schon wieder dabei, eine Verlobung zu planen, im übertragenen Sinne, du weißt, wie ich es meine. Das ging ja mit Ronald bereits schief.«
»Es hat dich sehr mitgenommen, als er weg war?«
»Ich habe es als schlimmen Vertrauensbruch empfunden, so als hätte er mich die ganze Zeit unseres Zusammenseins nur belogen. Was ja gar nicht gestimmt hat. Er hat sich halt einfach in eine andere verliebt. So einfach für ihn. Aber für mich kam die Schwermut und dieses unangenehme Gefühl im Bauch sofort zurück. Oje, du musst mich jetzt für total psycho halten. Ich hätte dir das alles nicht erzählen sollen.« Sie sah ihn traurig an.
»Im Gegenteil. Ich verstehe dich gut. Nicht dass mir das Gurren der Tauben was ausmachen würde, die Ratten der Lüfte sind mir herzlich egal. Aber dieses Gefühl, von dem du sprichst, das ist doch so ähnlich, wie wenn man unglücklich verliebt ist. Wenn man sich quält, weil man nicht die eigenen intensiven Gefühle reflektiert bekommt, von der Person, für die man so stark empfindet. Handelte nicht das Lied von Grönemeyer „Flugzeuge im Bauch“ davon?«
»Genau, Gerald. Kein schlechter Vergleich.«
Er streichelte über ihren Nabel. »Ist doch komisch, dass sich negative Gefühle dort breitmachen. Der Magen sollte sich nur um die Verdauung von Schweinebraten kümmern, damit hätte er genug zu tun.«
»Aber wirklich!« Sie lächelte.
»Ich mache dir einen Vorschlag. Wir lassen die Tauben verstummen und die Flugzeuge auch, indem wir einfach zusammen bleiben. Solange wir uns mögen und schön finden. Ich finde dich wunderschön und vor allem auch sehr klug und wahrhaftig. Das sind zusammen hundert Prozent. Mehr kann man nicht wollen und bekommen.«
Sie schmiegte sich an ihn, küsste seinen Hals und hauchte ihm ins Ohr. »Ja.«
Es war sehr angenehm und beruhigend zu wissen, dass sie neben ihm lag. Sie suchte Schutz und Zuverlässigkeit, das wollte er auch. Sie schienen zueinander zu passen — wenn man das nach drei Tagen schon sagen konnte. Er fiel in fiebrigen Schlaf, hatte einen befremdlichen Traum. Er saß in einem überdimensionalen dornigen Nest, um ihn herum hockten kleine Täubchen, die mit aufgerissenen roten Mündern schrecklich laut nach Futter schrien. Gerald hielt sich die Ohren zu, aber das half überhaupt nicht. Es erschien eine riesige Taubenmutter mit einem sich kringelnden Wurm im Schnabel. Der Taubenkopf war dick und bedrohlich und hackte nach ihm. Dann stieß das Muttertier Gerald aus dem Nest, die Tiefe war wie ein Strudel, der ihn in sich hineinwirbelte.
Mit kaltem Schweiß auf der Stirn wachte er auf, ihm war schwindlig und sein Hals ausgetrocknet. Babs schlief ruhig atmend neben ihm. Hatte die Taubenmutter Bronzos Gesicht gehabt? Gerald war sich nicht sicher.
Ein paar Stunden davor im Hotel „Wilder Mann“:
»Dietmar, um Gottes Willen, was ist denn mir dir passiert? Das sieht ja furchtbar aus!« Silke trat näher und sah sich die riesige blaue Beule an der Stirn ihres Gatten genauer an.
»Ausgerutscht und an ein Metallregal geknallt, im Laden.«
»Oh Gott, das sollte sich ein Arzt ansehen, ich hoffe, du hast keine Gehirnerschütterung!«
»Aber nein, Mäusle, das ist doch nur eine Beule.«
»Hinkst du? Hast du dich auch am Bein verletzt?«
»Nur eine Schürfwunde am Knie, auch nicht so wild.«
»Also wirklich, Dietmar, bist du durch den Laden gejoggt? Das gibt es doch nicht, dass man sich so verletzt.«
»Das gibt es sehr wohl, wenn man ein Gespenst gesehen hat und verfolgen wollte!«
»Jetzt leg’ dich erstmal ins Bett und dann erzählst du mir alles ganz genau. Aber zuerst hole ich einen Eisbeutel aus der Kühltasche, für die Beule.«
»Das braucht es doch nicht, Mäusle!«
»Das braucht es sehr wohl. Das sieht wirklich schlimm aus. Dauert sicher zwei Wochen, bis das wieder richtig verheilt ist! Dein Knie schaue ich mir auch gleich an.«
Bronzo war schon froh, dass sich Silke um ihn kümmerte, das tat gut nach dieser beschissenen Sache im Outlet.
»Ich bin aus der Umkleidekabine raus, weil der Verkäufer laut geworden war, er wollte einen Ladendieb aufhalten. Ich stand da, in der Unterhose, und da habe ich ihn gesehen. IHN!«
»Wen? Neumann?«
»Er war es. Leibhaftig. Er muss neben mir in der Umkleidekabine gewesen sein, sonst hätte ich ihn doch vorher schon wahrgenommen.«
»Und dann?«
»Er ist abgehauen, aus dem Laden raus. Und mich hat es strumpfsockig voll geschmissen. Ich konnte ihn nicht verfolgen.«
»Nicht zu fassen, Dietmar! Neumann also tatsächlich am Bodensee, wahrscheinlich wohnt er sogar in Meersburg. Was für ein Zufall, dass er in dem gleichen Laden war wie du! Total verrückt!«
»Der Verkäufer wollte gleich noch die Polizei rufen, weil Neumann mit geklauten Klamotten geflohen ist.«
»Ist doch gut, Dietmar!«
»Nein, ist es nicht. Überhaupt nicht.«
»Das musst du mir erkären.« Sie legte ihrem Mann den Eisbeutel auf die Stirn und er stöhnte.
»KAAALT!«
»So soll es sein, damit die Schwellung zurückgeht.«
»Mäusle, ich habe dem Verkäufer 250 Euro gegeben und ihm gesagt, er solle die Sache damit auf sich beruhen lassen. Ich sei Polizist und wäre dem Räuber seit längerer Zeit auf der Spur, er sei von München aus hierher nach Meersburg geflohen. Noch mehr Polizei würde meine Arbeit eher erschweren — und eine Strafanzeige in diesem Falle nichts bringen. Ich bin dann draußen in Markdorf am eiskalten Abend noch eine halbe Stunde herumgelaufen, habe auch ein Café nach Neumann abgesucht. Das war aber natürlich alles umsonst.«
»Du hast dem Verkäufer 250 Euro geschenkt, wegen Neumann?«
»Mäusle, das hat seinen guten Grund, glaube mir.«
»Und warum erklärst du mir diesen guten Grund nicht?«
»Mache ich später, jetzt kann ich sowieso nichts mehr unternehmen. Außerdem habe ich brutales Schädelweh.«
»Das kann ich mir vorstellen. Ich hoffe, du kannst ein wenig schlafen. Alles weitere besprechen wir morgen, mein Lieber.«
Bronzo hatte bereits die Augen geschlossen und fiel trotz des ganzen Ärgers in einen tiefen Schlaf. Er träumte, dass er nur in der Unterhose und in Socken auf einem Geröllfeld lag, auf ihm hockte Neumann. Dieser trug eine Fuchsmaske und bemalte Bronzos Gesicht mit einem Pinsel mit schwarzer Farbe. Dabei flüsterte er immer wieder: „Das ist für dich, das ist für dich“.
Fortsetzung folgt
Abbildung: Tania Van Den Berghen auf Pixabay
Zeit für den Werttransporter
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