Fortsetzung von Blog Nr. 261
24. Februar, Freitag, 10.00 Uhr.
Polizeiinspektion Poing: Polizeihauptmeister Meise hatte zwei Scheiben Dinkel-Vollkornbrot vor sich liegen. Darauf lagen jeweils zwei Schichten Gelbwurst. Meise besaß eine Vorliebe für Gelbwurst, so wie der Kommissar aus dem Fernsehen. Dazu gab es kleine Essiggurken und einen Kaffee mit Milch. Er hätte sich zwar viel lieber eine dicke weiche Semmel mit Erdbeermarmelade gegönnt, aber das vertrug sein empfindlicher Magen nicht. Meises sensibler „Säuremagen“ vertrug mittlerweile fast gar nichts mehr. Weizenmehlprodukte, Orangensaft, Fruchtjoghurt, Schokolade, Cola — wenn er das zu sich nahm, fing es in seinem Bauch nach kürzester Zeit an zu rumoren. Es brannte und drückte und fühlte sich lästig an. Am schlimmsten waren Backwaren für Meise. Rosinenbrötchen, Rohrnudeln, Kirschtaschen — das pure Gift. Es war alles andere als leicht gewesen, sich das Zeug abzugewöhnen, aber da war nichts zu wollen: Der Magen war bei Meise der Boss.
Das Telefon klingelte.
»Meise, Polizeiinspektion Poing.«
»Lämmerer, Polizeirevier Tübingen.«
»Ah, Grüß Gott, Herr Kollege! Tübingen! Schöne Stadt, ich war da mal auf der Durchreise in den Schwarzwald. Was kann ich für Sie tun?«
»Folgendes, Herr Meise: In unserer Stadt, genauer gesagt in Dußlingen, wurde vor ein paar Tagen ein teures E-Bike gestohlen. Der Täter sagte dem Verkäufer, er wolle eine Probefahrt machen, als Garantie überließ er diesem seinen Personalausweis und den Führerschein. Als das E-Bike nicht mehr zurückgebracht wurde, informierte der Verkäufer uns.«
»Lassen Sie mich raten, Herr Lämmerer. Die Dokumente sind auf einen Cornelius Birkl ausgestellt, richtig?«
»Ganz genau, Cornelius Birkl, wohnhaft in Anzing.«
»Also, Herrn Birkl wurde in der letzten Woche die Brieftasche gestohlen, von einem gewissen Gerald Neumann. Der Mann ist ein flüchtiger Schwerverbrecher aus München. In unserer Nachbarortschaft Anzing hat er sich außerdem einen silbergrauen Smart illegal angeeignet und ist seitdem damit unterwegs. Kennzeichen M AX 0497. Der Münchner Kommissar Dietmar Bronzo ist ihm auf der Spur.«
»Ah, das ist ja hochinteressant, Herr Meise. Da haben wir es also mit einem ziemlich ausgefuchsten Räuber zu tun.«
»Genau, Herr Lämmerer. Und dem es bei den gestohlenen Ausweisen außerdem noch in die Hände gespielt hat, dass ihm Herr Birkl ähnlich sieht. Deshalb hatte der Verkäufer im Fahrradladen wohl auch keine Bedenken, das teure E-Bike für eine Probefahrt freizugeben.«
»Somit ist Neumann immer noch im Besitz seiner eigenen Dokumente. Ich könnte mir gut vorstellen, dass ihm der gestohlene Smart zu heiß geworden ist und er deshalb das Transportmittel wechseln wollte.«
»Sie sagen es, Herr Kollege. Das denke ich auch. In diesem Falle hat Neumann den Smart vermutlich irgendwo abgestellt, wahrscheinlich sogar in der Nähe des Fahrradladens.«
»Das ergibt Sinn, Herr Meise. Wir schauen uns in Dußlingen nach einem Smart mit diesem Kennzeichen um. Werden Sie diesen Kommissar aus München informieren, dass sich Neumann möglicherweise im Umkreis von Tübingen aufhalten könnte? Ich schicke Ihnen Birkls Ausweise, dann können Sie diese dem rechtmäßigen Besitzer wieder geben.«
»Vielen Dank, Herr Lämmerer! Und klar: Kommissar Bronzo wird informiert. Grüßen Sie das schöne Tübingen von mir!« Meise verspeiste das restliche Gelbwurstbrot, dann versuchte er, Bronzo zu erreichen. Der würde sich über diese Neuigkeiten sicher freuen.
Bronzo freute sich keinesfalls. Er wollte natürlich nicht, dass man Neumann aufspürte. Vielleicht würde der Smart gefunden werden, Birkls Ausweise waren ja bereits aufgetaucht. Damit könnte sich Meise aus Poing zufrieden geben und alles weitere ihm überlassen. Hoffentlich kam Neumann nicht auf die Idee, sich jetzt plötzlich freiwillig zu stellen und alles zu erzählen. Das wäre der worst case und wahrscheinlich auch Bronzos Untergang. Aber noch gab er die Hoffnung nicht auf, die Sache hinzubiegen. Es war auf jeden Fall riskant, hier in Meersburg zu bleiben. Man hatte ihn in der Therme gesehen, Kameras hatten ihn gefilmt. Er konnte draußen nicht einfach so herumspazieren. Doch wie sollte er das Silke erklären? Am besten erstmal im Hotel bleiben und sich eine Zeitlang auskurieren.
Gerald hatte einen Hass auf Bronzo, dagegen waren die psychischen Nachwirkungen auf das „Abgeschnittener-Finger-Verhör“ pillepalle. Er fühlte sich zutiefst gedemütigt von dem Dreckskerl, der ihn beinahe erwürgt hätte. Und die Geschichte im Dampfbad hatte ihm gezeigt, dass dieser „Kommissar“ ein skrupelloses Monster war. Aber warum nur hatte er Gerald töten wollen? Das ging ihm nicht in den Kopf.
Gerald würde Babs zwar sagen, dass er den Vorfall in der Therme zur Anzeige bringen würde, aber natürlich war ein Besuch bei der Polizei für ihn keine Option. Er musste anonym bleiben, schließlich war er ein gesuchter Verbrecher. Verrückt war: Bronzo hockte nun wahrscheinlich in irgendeinem Hotel hier in Meersburg und hatte ähnliche Probleme wie er selbst: nämlich unentdeckt bleiben zu wollen.
»Sag mal, Babs, hättest du Lust an diesem Wochenende einen Ausflug in eine andere Stadt zu machen? Ich brauche nach dieser gruseligen Sache einen Tapetenwechsel. Und du hast jetzt ja noch zwei Tage frei.«
»Ja, klar, mein Lieber! Ich bin das Wochenende frei wie ein Vögelchen! Machen wir das! Aber ich habe kein E-Bike, nicht einmal ein normales Fahrrad.«
»Das macht gar nichts. Draußen ist Schnee, Matsch und sicher auch bald wieder Regen. Da ist Radeln überhaupt kein Vergnügen, ich habe davon sowieso erstmal die Nase voll. Wir könnten aber doch den Flixbus nehmen.«
»Wir könnten auch mein Auto nehmen!« Sie sah ihn mit leuchtenden Augen an.
»Du hast ein Auto? Wunderbar!«
»Ja, was glaubst denn du? Eine Schweizerin ohne Auto? Wo gibt es denn sowas?«
Sie beschlossen, keine Zeit zu verlieren. Babs holte aus ihrem Kellerabteil einen Koffer aus Aluminum, Marke „Travelhouse“ und packte diesen in Windeseile. Gerald sah ihr dabei staunend zu — sie schien ein Kofferpackprofi zu sein, denn offensichtlich wusste sie ganz genau, was für sie auf einer zweitägigen Reise wichtig und was verzichtbar war. Und sie ließ netterweise Platz für ein paar von Geralds Dingen. Viel hatte er ja sowieso nicht. Seinen Kulturbeutel, die paar Klamotten, welche er bei seiner Flucht aus dem Outlet hatte mitgehen lassen und wenige Teile, die noch aus München stammten. Die regennassen Sachen von gestern hatte Babs über Nacht gewaschen und getrocknet. Er befüllte die beiden Fahrradsatteltaschen und seinen Rucksack. Um halb vier verließen sie Babs’ Appartement.
Über das Tiefgeschoss kamen sie in eine kleine Parkgarage. Babs öffnete den Kofferraum eines schwarzen Porsche Macan und legte ihren Koffer und Geralds Taschen und Rucksack hinein. Sie hätte darin auch noch einen Bernhardiner mitnehmen können, den es aber glücklicherweise nicht gab.
»Ein Relikt aus meiner Zeit als Businessfrau. Ich habe mir nicht viel geleistet damals, aber den schon. Es war ein Jahreswagen von einem Kollegen. Er hat mir vor drei Jahren einen echt fairen Preis gemacht. Schnurrt wie ein Kater, der Kleine.«
»Bloß gut, dass ich meinen Smart daheim gelassen habe, log Gerald. Du hättest mich ausgelacht.«
»Ach geh, ich bin doch auch schon Smart gefahren, da kenne ich nix. Komm, steig ein, der Kater beißt nicht.«
Der Wagen roch angenehm nach Leder und war offensichtlich sehr gut gepflegt worden. Gerald fand, dass er wie neu wirkte.
»In so einem Auto bin ich noch nie mitgefahren. Je länger ich dich kenne, umso mehr überrascht du mich, Babs. Du und dein Kater, beide ziemlich sexy, ich muss schon sagen.«
»Ich hoffe doch, dass du dich nun nicht in den Porsche verliebst und in mich dafür weniger.« Sie lächelte ihn schelmisch an und küsste ihn. Dann startete Babs den Motor.
»Boah, der Sound! Und wie ich sehe, hast du hier auch eine amtliche Stereoanlage, sogar mit USB-Anschluss fürs Smartphone.«
»Darauf hatte mein Kollege besonderen Wert gelegt. Ein Subwoofer ist außerdem unter dem Fahrersitz montiert. Die Vibration streichelt den Po, das musst du demnächst auch mal ausprobieren, Gerald. Und jetzt sollten wir uns entscheiden, wo es hingehen soll.«
»Ich habe vorher mal bei Google Maps nachgeschaut. Von hier nach Schaffhausen sind es ungefähr 67 Kilometer, es geht nordwestlich über dem Bodensee, bis zur Schweizer Grenze. Ich würde mir wirklich sehr gerne den berühmten Rheinfall ansehen. Ich weiß, du hast mir erzählt, dass du da schon warst. Aber macht es dir was aus, wenn wir hinfahren?« Gerald dachte natürlich auch daran, Abstand zu Bronzo zu gewinnen. Dem wollte er so schnell nicht wieder begegnen.
»Klar, mein Lieber. Das ist doch ein Katzensprung! Mit dir am tosenden Wasserfall, die Vorstellung gefällt mir. Kennst du den Film „Niagara“ mit Marilyn Monroe? Ich hoffe, bei uns wird es nicht ganz so dramatisch werden.«
»Klar kenne ich diesen Film. Ich würde die Monroe mit dir aber niemals tauschen wollen, das weißt du, gell?«
»Die wollte in dem Film ja auch ihren älteren Mann umbringen.«
»Oh Gott, ich bin auch ein gutes Stück älter als du, Babs. Das kann ja heiter werden in Schaffhausen.«
Sie legte ihm ihre rechte Hand auf den Oberschenkel, dann stieg sie aufs Gas. Gerald drückte es in den Sitz. Babs war eine sportliche Fahrerin und sie schien genau zu wissen, was sie tat. Bei einigen Überholmanövern wurde es ihm ganz anders zumute, aber sie und ihr fahrbarer Untersatz hatten offensichtlich einen Mordsspaß. Bei diesem Tempo konnten Sie bereits in einer guten halben Stunde in der Schweiz sein. In Babs’ Heimatland. Würden an der Grenze die Ausweise kontrolliert werden? Gerald konnte nur hoffen, dass alles glatt ging mit seinen originalen Dokumenten — die von Birkl hatte er ja für das E-Bike verschenken müssen. Er musste jetzt einfach auch mal Glück haben, nach zweimal Pech mit dem Bronzoschwein. Am Zollamt Thayingen wurde der Schweizer Porsche durchgewinkt. Was für Babs eine Selbstverständlichkeit war. Ihm aber fiel ein Stein vom Herzen.
Fortsetzung folgt
Abbildung: Vladimir Fayl auf Pixabay
Der echte Poinger Polizeimeister heißt Thomas Krause.
Ich hatte schon das Vergnügen, ihn zu treffen.
Anlässlich einer Anzeige wegen einer Fake-Erpressermail, die ich erhalten hatte.
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Das wenn ich gewusst hätte, dann hieße der Polizist bei mir nicht Meise sondern Mause. Tommy Mause.
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