Fortsetzung von Blog Nr. 269
26. Februar, Sonntag, 15.30 Uhr.
»Sind wir jetzt wie Bonnie and Clyde, Gerald?«
»Was? Wie kommst du denn darauf? DU hast dir bislang nichts zu schulden kommen lassen. Und ich weiß nicht, was Clyde so alles angestellt hat, aber gegen ihn bin ich vermutlich ein Waisenknabe.«
»Naja, freiwillig hat Grosskollinger diesen erstaunlichen Entschuldigungsbrief an mich bestimmt nicht geschrieben. Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Das ist allerdings richtig, meine Liebste. Ich habe ihm sehr freundlich nahegelegt, ich würde seine Frau anrufen und ihr sagen, dass er sich am Wochenende in Schaffhausen mit einer jungen Geliebten vergnügt. Wenn er diesen Brief nicht schreibt, so wie ich ihm diesen diktiere.«
»Und wenn er alleine gewesen wäre, ohne Geliebte?«
»Dann hätte ich andere Saiten aufgezogen. Aber das musste ich ja nicht. Ich bin nicht gerne grob.«
»Ich denke, ich bin nun doch wie Bonnie.«
»Naja, du deckst einen Kriminellen. Also bist du Bonniebabs.«
Sie lächelte. »Wir sind jetzt beide völlig frei in dem, wo wir hinfahren und was wir machen. Das ist wie Urlaub. Aber es fühlt sich leider nicht ganz so an als wie eine unbeschwerte Urlaubsreise.«
»Ich wünschte wirklich, wir hätten uns unter anderen Umständen kennengelernt, Babs. Ich habe noch nie an eine höhere Instanz geglaubt, aber es ist schon merkwürdig. Ich bilde mir was von Vorbestimmung ein, doch letztendlich wird wohl alles vom Zufall regiert.«
»Der Zufall mischt uns Glück und Unglück zusammen. Bei uns überwiegt aber das Glück, mein Lieber. Noch.«
»Apropos „noch“. Ich habe übrigens NOCH 1.650 Euro bei mir. An mein Bankkonto kann ich nicht mehr ran. Damit kommen wir in Europa und vor allem in der teuren Schweiz nicht besonders weit.«
»Mach’ dir da mal keine Sorgen, Gerald, ich habe in der Kantonal gut verdient und hatte bis auf den Porsche keine größeren Ausgaben. Es sind also Reserven vorhanden. Außerdem kann ich ja wieder kellnern. Und du kannst währenddessen eine Bank ausrauben. Bei DEINEM Talent.« Sie kicherte.
»Sehr witzig, Bonniebabs. Unterschätze mich nicht.«
Sie sah ihn ernst an. »Nach diesem Schleimerbrief von Grosskollinger? Ich unterschätze dich ganz sicher nicht, mein Lieber. Du bist schlauer und durchsetzungsfähiger, als du wirkst. Glaube ich.«
»Wollen wir morgen weg aus Schaffhausen? Das ist jetzt ein Grosskollinger-Ort geworden, den sollten wir hinter uns lassen, so wie wir Meersburg hinter uns gelassen haben.«
»Ja, das finde ich auch. Wir sollten an einen Gerald-Babs-Ort fahren, wo uns kein Bösewicht auflauert.«
»Lass uns versuchen, ein Urlaubsfeeling zu erzeugen. Machen wir sorgloses Sightseeing. Niemand weiß, wo wir sind. Allerdings: Wenn es die bayerische Polizei schafft, dich mit mir in Verbindung zu bringen und mit den Schweizer Kollegen eine Autobahnüberwachung vereinbart, dann kann uns dein Porsche eventuell gefährlich werden. Am besten, wir vermeiden Autobahnen. Auf Landstraßen ist es sowieso netter zu fahren, man sieht mehr von der Gegend und es ist viel weniger riskant.«
»Dies zum Thema sorgloses Urlaubsfeeling! Aber du hast recht. Wir sind vorsichtig. Noch vorsichtiger als Bonnie and Clyde.«
»Auf jeden Fall, Babs. Habe ich dir schon gesagt, dass ich dich liebe?«
»Hast du? Kann mich nicht erinnern.« Sie grinste.
»Okay, Baby. I love you. Amerikaner sagen das dauernd, ohne dass es so bedeutungsschwanger klingt oder gemeint ist wie bei uns.«
»And I love YOU, Clydegerald.«
Sie machten in Schaffhausen noch einen langen Spätnachmittagsspaziergang, mit Besuch im Adhriana Indian Restaurant. Gerald bestellte „Lamm Kadai“ mit Mandel-Kokosnuss-Sauce und Babs nahm „Chicken Tikka Masala“. Sie sprachen nicht mehr über ihre spezielle kriminelle Situation, sondern genossen die Freiheit ihres jetzigen Lebens. Und vertrauten darauf, dass ihnen die Intuition und der Zufall glückliche Situationen bescheren würden. Aber unter der Oberfläche verborgen lag dann doch eine Schicht Unsicherheit und auch Angst.
Am nächsten Morgen — Montag — brachen sie auf, in südwestlicher Richtung. Sie beschlossen, den Jurapark im Schweizer Kanton Aargau aufzusuchen. Nicht dass Babs und Gerald besonders große Natur- und Wanderfreunde gewesen wären, aber sie dachten, dass ihnen ein paar Tage in der frischen Luft gut tun würden. Abstand bekommen von den Aufregungen der letzten Tage, wenigen Menschen begegnen. Jetzt, um diese Zeit, würden sie auf den Wanderwegen in der hügeligen Landschaft bestimmt fast alleine unterwegs sein. Wenn sie Glück hatten, spielte auch das Wetter mit.
Im Naturpark, zentral gelegen, zeigte ihnen Google Maps den kleinen Ort Frick. Unspektakulär, 5.700 Einwohner, keine nennenswerten Sehenswürdigkeiten, allerdings gab es ein Sauriermuseum. Dort waren Knochenfunde und Versteinerungen von kleinen und großen urzeitlichen Lebewesen ausgestellt. Gerald machte sowas Spaß, ihn faszinierte es, Relikte aus weit zurückliegender Zeit anzuschauen. Babs meinte, da wolle sie unbedingt mit ihm hin.
In Frick bekamen Sie ein Doppelzimmer im Hotel Müllerhof, welches auch über ein Restaurant verfügte. Babs und Gerald waren keine Luxusmenschen, so einer wie Grosskollinger hätte eine solche Unterkunft natürlich verschmäht. Aber die beiden fanden es gerade gut so. Und Gerald hatte das Gefühl, in einer so „versteckten“ Ortschaft wie Frick würde man sie in tausend Jahren nicht aufspüren können.
Bei Wernli Sport konnte man sich sogar Fahrräder mieten. Das wollte Gerald auf jeden Fall, denn stundenlang zu Fuß herumlaufen, das war nicht so sein Ding. Sein geiles E-Bike hatte er ja leider in Meersburg zurücklassen müssen. Das hätte tatsächlich nicht mehr in Babs’ Porsche gepasst. Mit Babs und Leih-Rädern im Jurapark Aargau: Was konnte es Schöneres geben?
Um 12 Uhr mittags setzten sie sich in das Restaurant im Hotel. Es wurde ein Wochenmenü angeboten, heute „Schweineragout in Peperonisauce mit Jasminreis und Gemüse“ oder alternativ „Bärlachravioli in Weißweinsauce“. Gerald und Babs wählten beide die Ravioli. An einem anderen Tisch saßen zwei alte Herren mit wettergegerbten Gesichtern und grauen Stoppelbärten. Sie hatten altmodische Rucksäcke dabei.
»Grüezi, die Dame und der Herr! Hat es Sie auch in das schöne Frick verschlagen? Hier ist allerdings nicht viel los, keine Disco am Abend!« Das sagte der Stoppelbart mit dem grünkarierten Hemd und grinste.
»Disco, Anton! Mein Gott, was redest du für einen Schmarrn. Wer geht denn heutzutage noch in die Disco? Das heißt inzwischen Club.« So der Stoppelbart mit dem rotkarierten Hemd.
Gerald: »Grüß Gott, die Herren. Also, wir legen weder Wert auf eine Disco noch auf einen Club. Wir sind zum Radlfahren hergekommen. Ein paar Dinosaurier aufspüren.«
Und Babs: „Wir haben nämlich gehört, hier gibt es noch die letzten Velociraptoren.«
Stoppelbart grünkariertes Hemd: »Velociwas?«
Stoppelbart rotkariertes Hemd: »Mensch, Anton, hast du etwa nie Jurassic Park gesehen? Du lebst manchmal echt hinter dem Mond.«
Und Anton, grünkariertes Hemd, zu seinem Wanderkameraden: »Du brauchst gar nicht so anzugeben bei den jungen Leuten, alter Depp.«
Im Laufe des launigen Gesprächs erfuhren Gerald und Babs, dass die beiden rüstigen Wandersburschen Anton und Hans schon seit vielen Jahren zusammen herkamen, in den Jurapark.
»Wissen Sie, der Hans hat hier schon versteinerte Trilobiten gefunden. Und ich Ammoniten. Wissen Sie, was Ammoniten sind?«
»Kopffüsser, sowas wie Schnecken mit Schale und Tentakeln«, sagte Gerald.
»Genau, der Herr kennt sich aber aus! An Sonn- und Feiertagen stehen die hier sogar auf der Speisekarte.«
»Du bist heute wieder wahnsinnig witzig, Anton.« Hans verdrehte die Augen nach oben.
Und Babs: »Die beiden Herren könnten uns doch bestimmt ein paar Wandertipps geben, Sie kennen sich hier bestimmt gut aus.«
»Wie in unserer Westentasche — und Tipps geben wir gerne. Also: Ich bin der Hans und dieser alte Mann neben mir, das ist der Anton. Aber eigentlich sagt jeder Hansi und Toni zu uns.«
»Freut uns. Ich bin der Gerald und das ist die Barbara.«
Nach dem Essen holte Hans eine große abgenutzte Landkarte heraus und zeigte den beiden einen Weg, der von Frick aus in die Natur führte.
»Diesen Weg können Sie gut auch mit den Rädern machen. Ist teilweise etwas batzig, weil es gestern hier noch geregnet hat. Aber heute soll es trocken bleiben. Wenn Sie ungefähr fünf Kilometer in westlicher Richtung radeln, kommen Sie zur Burgruine Alt-Tierstein. Viel steht da allerdings nicht mehr von einer Burg. Dafür hüpfen aber noch ein paar Mini-Raptoren herum, also gut aufpassen.« Hans zwinkerte Babs zu.
Und Anton: »Von der Ruine aus geht es dann in südöstlicher Richtung wieder zurück, über Gipf-Oberfrick zum Hotel, also hierher. Das ist mit den Fahrrädern ja keine große Sache, aber landschaftlich sehr schön. Hans und ich sind diesen Weg schon oft gegangen.«
»Super, danke die Herren«, sagte Gerald. »Dann schauen wir mal, ob wir beim Wernli Sport Fahrräder geliehen bekommen. Noch einen schönen Tag!«
Gerald und Babs spazierten in das Sportgeschäft.
»Hallo, die Dame, der Herr, mein Name ist Waldermeier, womit kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Wir würden uns gerne Räder ausleihen, um heute Nachmittag ein wenig zu radeln. So ungefähr 15 Kilometer. Haben Sie da was Passendes für uns?«
»Auf jeden Fall haben wir was da. Wie wäre es mit E-Citybikes, pro Tag 60 Euro? Die sind nicht nur für die City geeignet, sondern auch für Straßen und Wege durch die Natur. Es sind natürlich keine Mountain-Bikes, aber für die Steigungen hier im Umland absolut ausreichend.«
Babs: »Klasse! Ich wollte schon immer mal ein E-Bike fahren.«
Gerald: »Wunderbar! Die nehmen wir. Gleich bezahlen?«
Waldermeier: »Genau. Und bitte noch einen Personalausweis bei mir lassen, zur Sicherheit.«
Babs: »Das übernehme ich.« Sie gab Waldermeier ihren Personalausweis. Dieser stellte noch die richtigen Sattelhöhen ein, erklärte kurz, wie man die Räder bediente und dann ging es auch schon los. Schon nach 50 Metern gab Babs ordentlich Tempo. Sie war auch beim Elektrorad eine sportliche Fahrerin, wie Gerald feststellte.
Fortsetzung folgt
Abbildung: Zinkl