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Fortsetzung von Blog Nr. 273

2. März, Donnerstag, 14.00 Uhr.

Marianne Raubinger las Kriminalromane. Dies so zu sagen, war allerdings untertrieben — sie verschlang gute Krimis mit großer Begeisterung und hatte mit ihren 75 Jahren eine Unmenge davon gelesen. Aber nicht nur das. In ihrem Wohnzimmerregal, welches die gesamte Wand gegenüber den Fenstern zur Terrasse einnahm, waren die Bücher ordentlich nach Autoren und chronologisch sortiert. Da gab es die 60 Sherlock Holmes-Klassiker von Sir Arthur Conan Doyle und die 66 Romane von Agatha Christie mit Miss Marple und Hercule Poirot. Außerdem hatte sie das Gesamtwerk von Georges Simenon gelesen, das waren weit über 200 Romane und Erzählungen — nicht alles nur Krimis. Und Frau Raubinger schätzte ebenso die düsteren Werke des skandinavischen Schriftstellers Henrik Mankell mit Kommissar Wallander und Stieg Larssons ganz besondere Heldin Lisbeth Salander.

Aber Mariannes mit Abstand liebste Autorin war ganz klar Patricia Highsmith. In deren Geschichten waren die Hauptpersonen keine Detektive oder Polizisten, sondern meistens introvertierte, gestörte Typen, welche durch für sie missliche Umstände kriminell und zu Mördern wurden. Legendär natürlich Tom Ripley! Wie Patricia um diesen sympathischen Antihelden ein verhängnisvolles Spinnennetz webte, aus dem er sich letzten Endes aber doch immer wieder befreien konnte, das war für Marianne ein spannendes Vergnügen. Ihr Lieblingsroman von Patricia war allerdings keiner mit Ripley, sondern „Lösegeld für einen Hund“ — eine Geschichte mit einem unglaublichen Sog. Dieses Buch hatte Marianne über die Jahre mehrmals gelesen, weil sie es so gut fand.

Sie wohnte seit über zwanzig Jahren alleine in ihrem Haus in Luzern. Ihr Oskar war mit 53 Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seitdem hatte sie nur noch die Krimis und Gott sei Dank wurden immer wieder neue geschrieben — obwohl sie nicht begeistert war über die geschmacklosen Brutalitäten und den Sadismus, der da leider inzwischen vorherrschte.

Heute war ein ganz besonderer Tag, denn ihre liebe Enkeltochter Barbara hatte angerufen, um Marianne zu besuchen. Ihre kleine Babsi! Die war zwar mittlerweile auch schon über dreißig, aber für Oma Raubinger noch immer das kleine Mädel, welches auf der sonnigen Südterrasse herumhüpfte. Babsi war jetzt der wichtigste Mensch für sie geworden, obwohl Marianne sie seit deren Depression und dem Umzug nach Meersburg lange nicht gesehen hatte. Babsi hatte keine Eltern mehr, nur noch ihre Oma. Und wie lange sie diese noch haben würde, war ungewiss. Marianne Raubinger erfreute sich zwar bester Gesundheit, aber das Schicksal war ein böser alter Hund, welcher zubiss, wenn man es nicht erwartete.

Zur Feier des Tages würde es heute Abend nach einer Ewigkeit wieder Fischfondue geben. Das hatte Babsi immer geliebt, aber ein Fischfondue alleine nur für sich zu machen, war natürlich blödsinnig. Gespannt war Marianne auch auf Babsis Begleiter, von dem sie ihr am Telefon mit Begeisterung erzählt hatte. Hoffentlich war dieser Gerald ein netter Kerl — ihre Nichte hatte bisher kein gutes Händchen für Männer gehabt. Na, mal sehen, wen sie da anbringen würde.

Sie würden es sich auf der Terrasse gemütlich machen, Marianne freute sich darauf zu hören, wie Babsi ihren Gerald kennengelernt hatte. Das Raubingerhaus am Seeufer war schon seit über hundert Jahren im Besitz der Familie. Das Grundstück war mittlerweile ein Vermögen wert und der Blick auf den Vierwaldstättersee eine echte Kostbarkeit. Hier, auf der alten Hollywoodschaukel, hatte Babsi mit ihrer Oma früher immer Orangensaft und Apfelkuchen gehabt. Unbeschwerte Zeiten damals! Heute war einer der ersten richtigen Sonnentage nach einem grässlich kalten Winter. Es klingelte — sie waren endlich da!

»OMA! Lass dich drücken! Schön, wieder hier zu sein. Und gut schaust du aus, ein bisserl mager vielleicht. Du musst mehr essen!«

»Ach was, ich esse genug. Abgesehen davon: Alleine essen macht halt nicht so viel Spaß. Und das ist Gerald, nehme ich an?«

»Grüß Gott, Frau Raubinger! Freut mich wirklich, dass ich sie kennenlernen darf. Babs, äh, Barbara, hat mir während der Fahrt hierher schon einiges über sie erzählt.«

»Es stört mich nicht, wenn Sie zu meiner Enkeltochter Babs sagen. Ich als ihre Großmutter habe allerdings die alleinige Genehmigung seit Jahrzehnten, sie Babsi zu nennen.« Marianne lächelte schelmisch.

»Oma, darf ich Gerald das Haus zeigen? Wir können das Gästezimmer nehmen, gell? Mein früheres Kinderzimmer.«

»Ja, natürlich, führe ihn nur herum. Ich bereite währenddessen ein bisserl was vor, für das Abendessen. Es gibt Fischfondue!«

»Super! Das beste Fischfondue in der ganzen Schweiz! Komm, Gerald, wir gehen zuerst auf die Terrasse. Das ist das Sahnestück hier.« Babs ging mit ihm ins Wohnzimmer, vorbei an der „Kriminalroman-Bücherwand“, durch die Glastüre ins Freie.

»Boah, das ist ein Ausblick, Babs! Darauf war ich nicht vorbereitet. Der Hammer! Hier lässt es sich leben. Wie der See glitzert!«

»Schau, die Hollywoodschaukel. Die ist wahrscheinlich älter als ich. Darauf habe ich schon als Kind immer gesessen. Es quietscht, wenn man schaukelt.« Babs setzte sich drauf und führte es ihm vor.«

Gerald schaute auf den See und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis die Polizei hier antanzen würde. Man sollte die alte Dame vielleicht dezent vorwarnen, dass unliebsamer Besuch bevorstand. Hoffentlich war Bronzo noch möglichst lange außer Gefecht.

Babs kam zu ihm und nahm seine Hand. »Du denkst sicher an das, an was ich auch denke, Gerald.«

»Wir müssen es deiner Oma sagen. Besser, sie ist vorbereitet, als wenn es wie aus heiteren Himmel auf sie einstürzt, der Besuch der Polizei in den nächsten Tagen. Mich würde es ja sehr wundern, wenn das nicht geschehen würde. Ich sollte ab jetzt alleine weiterziehen — und damit dich und deine Oma schützen. Du kannst immer sagen, dass du nicht wusstest, dass nach mir gefahndet wird.«

»Nein, das will ich nicht, Gerald. Wir halten zusammen. Nach dem Essen erzählen wir meiner Oma von der Sache.«

Das Fischfondue war ein großer Spaß. Frau Raubinger hatte Lachs- und Kabeljaustücke vorbereitet, dazu einen Teller mit Shrimps. Und sehr viel Gemüse geschnitten: Brokkoli, Blumenkohl, Karotten, Lauch, Paprikaschoten. Außerdem gab es zum Eintauchen in die heiße Gemüsebrühe auch Champignons. Sie tranken eisgekühlten Weißwein.

Gerald spürte, wie gut es der alten Dame tat, dass sie endlich wieder ihre geliebte Enkelin um sich hatte. Und mit ihm schien sie einverstanden zu sein. Hier in diesem Haus, mit der genialen Terrasse direkt vor dem See, ließe es sich eine Zeitlang aushalten. Es gab sogar einen Steg hinaus aufs Wasser, exklusiv nur für das Raubingergrundstück. Hier im Sommer baden, ein Traum. Leider wirklich nur ein Traum, der sich vermutlich nicht realisieren lassen würde.

»So, ihr beiden, erzählt einer alten Dame nun doch bitte, wie ihr euch kennengelernt habt. Ich bin sehr gespannt.«

»Tja, Oma. Gerald saß im Café, ich habe ihm Aperol Spritz gebracht, daraufhin hat er mich sofort gefragt, ob ich ihn am Abend besuchen kommen würde.«

»WAS? So frech?« Marianne lachte. »Das nenne ich „auf den Punkt kommen“.«

»Babs, das hättest du nicht erzählen dürfen. Jetzt bin ich unten durch bei deiner Oma.«

»Ach was, meine Oma ist cool. Stimmts, Oma?«

»Ich nehme an, ihr beiden seid aber vorher erst noch ein wenig spazierengegangen und habt euch unterhalten?«

»Genauso war es, Frau Raubinger. Babs wollte sich natürlich erst vergewissern, mit wem sie es zu tun hat.« Gerald nahm ihre Hand.

»Na dann ist ja alles bestens, meine Lieben. Ihr seid erwachsen und ich merke, ihr versteht euch. Was will man mehr? Wollt ihr noch Eis zum Nachtisch?«

»Du, Oma, es ist leider gar nicht alles so sonnig bei uns, wie es jetzt wirkt. Überhaupt nicht. Tut mir sehr leid.«

Dann erzählte Babs Frau Raubinger ziemlich klar und deutlich, dass Gerald auf der Flucht vor der Polizei war. Zumindest erzählte sie ihrer Oma all das, wovon sie im Zusammenhang mit Geralds Flucht wusste. Marianne Raubinger hörte konzentriert zu und stellte nur dreimal eine sinnvolle Zwischenfrage. Danach wurde es sehr still am Tisch, Gerald war gespannt, wie Babs’ Oma nun reagieren würde.

»Ich hole uns jetzt erstmal Eis.« Die alte Dame ging langsam in die Küche und dachte daran, dass sie nun plötzlich selbst in einem Krimi mitspielte. Das war allerdings merkwürdig. Was würde Jane Marple tun, in einer solchen Situation?

Frau Raubinger brachte ein Tablett mit drei Schälchen Vanille- und Schokoeis. In jedem steckte ein kleines Schweizer Fähnchen. »Die habe ich noch in der Schublade gefunden, keine Ahnung, woher die kommen.«

»Danke für das tolle Essen und jetzt auch noch das Eis, Frau Raubinger. Wirklich lieb von ihnen, dass Sie sich soviel Arbeit gemacht haben für uns.«

»Ach was, das mache ich doch gerne. Und ich hab es ja auch für mich getan. Es ist ein großer Spaß, euch hier zu haben. Trotz der prekären Lage, in der wir uns jetzt befinden.«

»Du nicht, Oma, du hast mit dieser Sache gar nichts zu tun. Offiziell weißt du von nichts!«

»Ich nehme an, ihr beiden könnt nicht länger bleiben, hier bei mir. Außer, liebe Babsi, dein Freund will und wird sich der Polizei stellen. Dann wäre die Geschichte vorbei — für einen guten Krimi allerdings ein furchtbar fades Ende. Gerald, sie haben doch niemanden umgebracht?«

»Ich schwöre bei allem was mir heilig ist, Frau Raubinger, das habe ich nicht.«

»Dann ist es ja gut. Tom Ripley hat mehrere Leute getötet, wissen Sie. Aber er kam damit immer durch. Ich glaube jedoch, im echten Leben funktioniert das nicht.«

Babs brach plötzlich in Tränen aus. »Es ist so beschissen, Oma, ich weiß nicht mehr weiter. Es könnte jetzt alles so schön sein, wenn DAS nicht wäre.« Gerald stand auf und nahm sie in den Arm.

»Wir lassen uns was einfallen, ihr beiden.« Frau Raubinger stand auf und brachte die leeren Schälchen mit den Schweizer Fähnchen zurück in die Küche.

Fortsetzung folgt

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Abbildung: creisi auf pixabay