BvsN-36

Fortsetzung von Blog Nr. 275

3. März, Freitag, 16.30 Uhr.

Ewald Wetterich hatte einen grandios beschissenen Tag hinter sich. Für einen 54-jährigen Kundenberater im Druckgewerbe schien es nicht mal mehr im Umkreis von 100 Kilometern lukrative Aufträge zu geben. Jahrzehntelang hatte er sich in und um Bern den Arsch aufgerissen, um für seine Firma PrintGraphic die Kunden an Land zu ziehen. Seit einem halben Jahr nannte man sich PrintGrafiX. Das „X“ am Wortende sollte bedeuten: Wir arbeiten schnell! Schnell bestellt übers Internet, schnell gedruckt und schnell ausgeliefert. Für einen Fachmann, der die Kundschaft im persönlichen Gespräch kompetent beriet, ihnen besondere Papiersorten und partielle Drucklackierungen nahelegte, war da kaum mehr Platz. Es war sowieso schwierig geworden, wenn der Berater über zwanzig Jahre älter war als der Kunde — für die war er doch ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert. Überhaupt befanden sich die meisten Kunden inzwischen auf dem Spartrip. Wer wollte noch hochwertige Imagebroschüren auf Papier gedruckt? Es wurden pdf-Dateien zum Download angeboten, damit hatte es sich.

Außerdem war er müde. Er hatte im Grunde gar keinen Bock mehr auf die ganze Akquisekacke. Er war ausgelaugt. Aber auch noch viel zu weit entfernt vom Ruhestand. Heute war er in Luzern gewesen, bei der Bartek-Silder AG. Schon als er in den Besprechungsraum gekommen war und die beiden jungen Wichtigfuzzis gesehen hatte, wusste er, dass er es vergessen konnte, dort einen Druckauftrag an Land zu ziehen.

Nun hockte er wieder im IC21, zurück nach Bern. In Olten würde er in den IC8 umsteigen müssen. Nervig. Er bereute es, dass er nicht den Wagen genommen hatte, er hasste das Zugfahren. Aber Ute hatte ihm gesagt, im Zug könne er in Ruhe Zeitung lesen und sich entspannt auf seinen Termin vorbereiten. Und er solle bitte auf sein schwaches Herz achten. Naja, toll, wie sollte er das bitte anstellen? Im Zug ging es zu wie im Taubenschlag, jetzt am späten Freitagnachmittag. In seinem Abteil saßen noch drei Leute. Aber was für welche, mein Gott!

Direkt ihm gegenüber hockte eine Transe. Exakt so, wie man sich eine Transe vorstellte: mit schulterlanger wasserstoffblonder Perücke, einem Gesicht mit grellrot bemalten Lippen und langen falschen Wimpern, mit unter der Leopardenbluse kugelrunden Brüsten aus Schaumstoff oder Plastik, einer schwarzen Netzstrumpfhose über dürren Männerbeinen und grellroten Slippern. Auf Pumps konnte „sie“ wohl nicht richtig laufen. Die ganze Erscheinung nur widerlich. Eigentlich waren ihm solche Typen scheißegal. Aber wenn sich jemand so ausstaffierte, so nach dem Motto „Schaut her, WIE ICH BIN“, das fand Ewald zum Kotzen.

Neben der Transe hockte eine echte Blondine, so um die dreißig, sexy zwar, aber auch geschmacklos angezogen und zu stark geschminkt, so richtig nuttig. Die vierte Person im Abteil war ein — Ewald konnte es echt nicht fassen — Liliputaner! So einer wie dieser Zwerg aus „Game of Thrones“. Ewald wusste gar nicht, wie man solche Menschen inzwischen korrekt bezeichnete, bei der ganzen woke-Scheiße, die momentan abging. Gnom? Minimann? Wichtl? War auch egal, er musste ja keines dieser Wörter aussprechen. Gedanken waren noch immer frei.

Er versteckte sich hinter der aktuellen Ausgabe von „Blick“, wollte dieses Kurositätenkabinett nicht sehen. Im Innenteil war ein Bericht, mit der Überschrift „BENZINDUSCHE FÜR DEUTSCHEN KOMMISSAR“. Das fand Ewald witzig. Ein gewisser Gerald Neumann sei ein von der bayerischen Polizei gesuchter Krimineller, er habe die Tat an einer Tankstelle in Frick begangen. Der Kommissar läge nun im Krankenhaus. Ein kleines Bild von Neumann war auch abgedruckt. Ein Typ mit einem schmalen Allerweltsgesicht. Er sei mit einer jüngeren Frau unterwegs. Benzindusche! Coole Idee. Sollte man mit der Transe auch machen. Ewald stellte sich vor, wie die Transe anfing zu brennen und der Liliputaner mit einem für ihn viel zu schweren Feuerlöscher umher hoppelte, um das Feuer zu löschen. Geiler Gedanke, filmreif.

Die Frau flüsterte der Transe etwas zu, sehr leise, aber Ewald verstand trotzdem jedes Wort. Sein Gehör war schon immer super gewesen.

»Du, Gerald, meinst du nicht, wir haben es etwas übertrieben?«

»Ach was, das ist doch lustig. Aber saumäßig unbequem, diese Klamotten. Hauptsache, man erkennt uns nicht.«

Hatte die Frau gerade „Gerald“ gesagt? Der Benzinmann in dem Artikel hieß auch Gerald. Ewald kam ein lustiger Verdacht. Hatte sich Neumann als Transe verkleidet, damit ihn die Polizei nicht erwischte? Respekt! Das fand Ewald schon wieder gut. Wie in einem billigen Fernsehkrimi. Pulp Fiction oder so. Ewald lugte über der Zeitung hervor und versuchte, das Gesicht der Transe mit dem Foto in der Zeitung in Übereinstimmung zu bringen. Es war schwierig, wegen der Weiberschminke, aber das konnte passen.

Ewald holte sein Smartphone heraus und googelte hinter der hochgehaltenen Zeitung, ob für Hinweise zu Neumanns Festnahme eine Belohnung ausgesetzt war, konnte das aber nicht herausfinden. Der Mann war ja kein Mörder, da gab es wohl kein Geld für einen Tipp bei der Polizei. Eigentlich war ihm der Typ im Transenoutfit jetzt fast sympathisch. Ein Mann der Tat, durchaus: ein paar Schlucke Benzin für einen Bullen. Ewald wollte sich einen kleinen Spaß erlauben, das würde ihn von seinem heutigen frustrierenden Geschäftstermin ablenken.

»Entschuldigen Sie, darf ich Sie mal was fragen?«

»Ja, bitte?« Die Transe versuchte so hoch wie eine Frau zu sprechen, aber man merkte, dass „sie“ damit keine Erfahrung hatte.

»Sie sind doch im Grunde ein Mann oder waren früher einer, richtig?«

»Was soll diese doofe Frage, was fällt Ihnen ein?« So das nuttige Weibchen, sie schien sehr aufgebracht.

»Oh, bitte, ich wollte nicht despektierlich sein. Ich war nur noch nie in so einer Situation, so nahe dran, verstehen Sie?«

»Was soll das? Diese Frage ist sehr wohl despektierlich! Halten Sie sich gefälligst zurück!« So mischte sich nun auch der Zwerg ein, mit einer erstaunlich tiefen Stimme. Die Aliens hielten zusammen.

»Ach, kommen Sie. Leben und leben lassen. Ich habe nichts gegen Transit-Sexuelle. Und auch gar nichts gegen sehr sehr kleine Menschen. Jeder soll nach seiner Fasson selig werden.« Ewald grinste, dem Zwerg blieb anscheinend die Spucke weg.

»Was sind Sie nur für ein Arsch!« Sagte verächtlich die Frau.

»Ach lassen Sie nur, der Typ ist es gar nicht wert, dass man sich über ihn aufregt.« So der Zwerg mit seiner sonoren Stimme.

»Ich habe gerade einen hochinteressanten Artikel in der Zeitung gelesen, schauen Sie doch mal.«

Ewald drehte das Blatt um und zeigte der Transe und seiner Freundin die fette Überschrift zu dem Bericht über die Benzindusche an der Tankstelle in Frick. Dabei beobachtete er genau die Reaktion der beiden. Das Gesicht der Blondine wurde starr und sie schaute schnell und offensichtlich fassungslos zu Neumann rüber. Ewald war sich nun sicher, dass die Transe Neumann war.

»Was wollen Sie, wieso zeigen Sie uns das?« Neumann-Transe schien relativ gefasst.

»Ich dachte nur, das könnte vielleicht von Interesse für Sie sein. Heutzutage kann man anscheinend nicht mal mehr in Ruhe tanken, ohne dass einen ein Verrückter angreift. Aber die Polizei wird diesen MANN bald erwischen, was denken Sie?« Ewald grinste, er war über sich selbst überrascht, was er sich da gerade traute.

»Komm, wir gehen kurz raus.« Die Blondine nahm Neumanns Hand und zog ihn aus dem Abteil, auf den schmalen Gang. Die schöne Schweizer Landschaft raste vorbei, Babs war total aufgelöst.«

»Gerald! Was machen wir denn jetzt? Was hast du da an der Tankstelle nur angerichtet? Du hast mir davon kein Sterbenswörtchen erzählt! Mein Gott! Und dieser Typ tut so, als würde er Bescheid wissen. Der wird gleich die Polizei rufen. Und wir sitzen hier im Zug fest.«

»Ich regle das, Babs.«

Gerald ging schnell zurück ins Abteil, nahm seinen Rucksack von der Gepäckablage herunter, griff hinein und holte die bewährte Spielzeugpistole heraus. Bevor der Typ wusste, wie ihm geschah, drückte ihm Gerald die Waffe seitlich an den Bauch.

»Ganz ruhig, mein Freund. Sonst schieße ich dir jetzt sofort in die Leber, das ist nicht weniger schlimm als ein bisschen Benzin saufen, du Dreckskerl. KEINEN MUCKS!«

Ewald Wetterich starrte Gerald mit großen Augen an und stieß leise hervor: »Ich wollte … ich wollte doch nur …«

Der kleinwüchsige Mann war, entsetzt von der Aktion, aufgestanden und verließ blitzschnell das Abteil. Ob er draußen was zu Babs sagte, konnte Gerald nicht hören, der Zug war zu laut.

»Hör zu, du gibst mir jetzt dein Handy, dann passiert dir nichts. Gib es her, sofort. Und kein Wort mehr. Ich fackle nicht lange.«

Ewald griff hektisch in die Innentasche seines Sakkos und gab Gerald sein Smartphone. Dieser warf es in seinen Rucksack.

»So, und jetzt machen wir einen kleinen Spaziergang aufs Klo. Du gehst voraus. Ich bin dicht hinter dir, meine Kanone bleibt an deiner Hüfte. Wenn du um Hilfe schreist, bist du tot. Hast du verstanden?«

Ewald nickte, inzwischen hatte er Schweißperlen auf der Stirn. Er hatte panische Angst, dass ihm der Irre was antun würde. Die beiden verließen das Abteil. Gerald zu Babs: »Hol unser Zeug aus dem Abteil und gehe vor zur Toilette. Dort wartest du bitte.«

Gerald und Ewald drängten sich vorbei an anderen Passagieren, die vor dem aufgetakelten Transsexuellen zurückwichen. Die beiden waren so eng hintereinander, dass keiner die Pistole sah, welche Gerald unter Ewalds Sakko an dessen Hüfte presste. Sie schoben sich den Gang vor, bis zu der Stelle, an der die Toilette war, nahe dem Waggon-Ausgang. Zum Glück stand hier kein Passagier und die Toilette war frei.

»Los, da gehen wir beide jetzt rein. Wenn du brav bist, passiert dir nichts. Mach auf.« Ewald öffnete die Toilettentür, Gerald stieß ihn hinein, danach quetschte er sich selbst dazu und verschloss die Türe.

»Schon mal Sex mit einem Transit-Sexuellen gehabt? Jetzt hast du die Gelegenheit.« Gerald sah ihm ins Gesicht, so fies er konnte.

»Bitte tun sie mir nichts, ich hätte die Polizei doch nicht gerufen.«

»Ganz ruhig, mein Freund. Wir bleiben jetzt hier drin, bis der Zug in Olten ankommt. Das dürfte in einer knappen Viertelstunde der Fall sein. Danach verlasse ich das Klo. Du bleibst drin!«

»Ich muss aber in Olten umsteigen!«

Gerald fasste ihm mit der linken Hand mit brutaler Kraft an die Gurgel und stieß ihm gleichzeitig den Pistolenlauf ganz fest in den Unterleib. »Du kannst froh sein, wenn ich dich hier drin nicht fertigmache. Hast du verstanden?«
Ewald versuchte zu nicken.

»Ich tue, was sie sagen.«

»Gut. Du bist gleich erlöst, dann hast du eine schöne Erinnerung an diese Zugfahrt. Die kannst du dann deinen Kindern erzählen. Hast du Kinder?« Ewald nickte.

»Du wirst sie heute abend wieder sehen. Wenn du jetzt keinen Scheiß machst. Hast du verstanden? Keinen Scheiß!«

Gerald sah auf die Uhr. Es war 16.34. In acht Minuten sollte der Zug in Olten halten.

»Ich verlasse dich jetzt, bleibe aber vor der Toilette stehen. Du sperrst hinter mir zu, hast du verstanden? Wenn du versuchst, herauszukommen, komme ich wieder rein und bringe dich um. Hast du kapiert? DU BLEIBST DRIN!«

Ewald nickte und war sichtlich froh, dass die schreckliche Situation jetzt gleich vorbei war.

»Soll ich dich noch schnell bewusstlos schlagen? Mit einem Schlag an die Schläfe? Vielleicht stirbst du dann aber.«

»Nein, bitte nicht. Ich bleibe hier drin. Ganz sicher.«

»Hast du eine Visitenkarte? Gib sie mir, dann schicke ich dir dein Handy zurück. Versprochen. Wenn du hier drin bleibst.«

»Danke.« Ewald gab Neumann eine Visitenkarte von seiner Firma in Bern.

Gerald schloss auf und verließ die Toilette. Die Pistole klemmte er sich schnell oben in den Minirock, unsichtbar unter dem rosa Lederjäckchen. Vor der Toilette stand Babs mit dem Gepäck.

»Danke, mein Schatz.« Sie antwortete nicht, ihr Gesicht war wie versteinert. Gerald zog sich den Rucksack über. Sie warteten, bis der Zug hielt und verließen ihn wortlos, zusammen mit einigen anderen Passagieren. Dann beeilten sie sich, dass sie so schnell wie möglich vom Bahnsteig runterkamen.

Als sich Ewald aus der Toilette traute und langsam ins Abteil zurückging, zu seiner Tasche, war er nur noch froh, die Sache überstanden zu haben. Aber er zitterte, ihn fröstelte und er hatte Schwindelgefühle. Ihm war kalt und heiß zugleich. Plötzlich spürte er einen schlimmen Stich am Herzen. Danach: grelles Licht — absolute Schwärze. Ewald Wetterich fiel in einen tiefen Schlaf. Er würde nicht mehr aufwachen.

Fortsetzung folgt

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Abbildung: Kelsey Vere auf pixabay