BvsN-38

Fortsetzung von Blog Nr. 277

3. März, Freitag, 17.30 Uhr.

»Lass uns an einen Ort fahren, an welchem uns niemand finden kann, Gerald.«

»Das ist eine wunderbare Idee, meine Liebste. Aber wahrscheinlich kann uns die Polizei auf Dauer selbst in dem verlassensten Alpenkaff aufspüren. Überall gibt es Zeitungen, Radio, TV und Ortungsmöglichkeiten. Wir müssen sehr umsichtig vorgehen.«

»Super Idee! Das sagst gerade du, mit deiner Spielzeugpistole — das war ja ganz besonders umsichtig von dir. In Olten sind wir jedenfalls schon mal aufgeflogen. Wir müssen raus aus der Stadt. Schnellstens.«

»Ganz klar. Mietwagen, Taxi, Zug? Wir können es uns aussuchen.«

»Das hinterlässt alles Spuren, die uns irgendwie an die Polizei verraten könnten. Am besten mit E-Bikes und Prepaid-Handys. Mein altes Handy ist bereits aus. Meine Oma darf ich ja auch nicht mehr anrufen. Wer weiß, ob die Polizei nicht schon darauf wartet, dass ich mich bei ihr melde. Mensch, wie ich inzwischen denke, der Wahnsinn.«

»Profi-Gangsterbraut halt.« Gerald grinste.

»Sehr sehr witzig, mir ist gerade nicht zum Spaßen zumute, nach dem scheußlichen Erlebnis im Zug.«

»Schau mal, Babs, ich habe auf Google Maps was gefunden. Da gibt es 225 Kilometer südlich von Genf einen idyllischen Campingplatz mit netten Holzbungalows. Das ist bereits in Frankreich, an den Ausläufern der Alpen. Das Dorf heißt Saint-Jacques-en-Valgodemard, der Campingplatz „Le Bocage“. Scheint ein wunderschöner Ort zu sein. Warst du da schon mal?«

»Du bist lustig, natürlich nicht! Wie kommst du denn darauf?«

»Einfach gegoogelt. Ich finde, dort sollten wir hinfahren. Wenn wir es uns schon aussuchen können, dann fahren wir halt an einen Ort, wo es auch schön ist. Oder?«

»Das ist aber zu weit mit E-Bikes, mein Freund. Viel zu weit.«

»Wir brauchen ein Auto, ganz klar, meine Freundin.«

»Und wo sollen wir jetzt am Freitagabend auf die Schnelle ein Auto herbekommen? Einen Mietwagen nehmen? Mit meinem Ausweis?«

»Ich stehle uns eines.«

»Wie bitte? Willst du hier in Olten herumlatschen und schauen, ob irgendwo der Schlüssel steckt?«

»Stimmt, wir brauchen eines mit Autoschlüssel. Ich kann nämlich keine Verdrahtung unter dem Lenkrad vornehmen, so wie die Profis. Das müsste ich erst noch lernen.«

»Du meinst das tatsächlich ernst, Gerald!«

»Ein Benz A-Klasse würde mir gefallen, so einen hatte ich mal, als ich noch seriös und harmlos gewesen bin.«

»Ach na klar, wir können uns die Marke ja aussuchen, kein Problem.« Sie musste kichern und Gerald war froh, dass ihr sonniges Gemüt wieder zum Vorschein kam.

»Schau mal, da drüben, in der kleinen Seitenstraße. Da steigt ein alter Mann mit Hut aus einem grünen Opel Kadett. Komm, lass uns schnell hingehen. Ich will ihn was fragen.«

»Aber diesmal bitte ganz ohne Gewalt. Bitte!«

»Okay.«

Herr Bollmäuser ärgerte sich. Dreimal hatten ihn heute irgendwelche Arschlöcher von hinten angehupt, weil er denen angeblich zu langsam gefahren war. Bollmäuser besaß seinen Führerschein seit 1968 und nie hatte er einen Unfall gehabt — und in dieser Zeit allerhöchstens mal ein paar Strafzettel, weil er den Wagen im eingeschränkten Halteverbot abgestellt hatte. Es ging heutzutage ja gar nicht mehr anders, wenn einem keine Garage gehörte. Überall die verdammten Verbotsschilder. Heute war Bollmäuser bei Aldi gewesen, wegen der Sonderangebote. Er konnte keine großen Sprünge mehr machen, mit seiner spärlichen Rente, aber das Autofahren wollte er sich nicht nehmen lassen. NOCH nicht. Vor allem nicht wegen dieser Idioten, die meinten, man müsse mit 80 km/h durch die Stadt rasen. Und dazu laute Affenmusik hören.

»Grüß Gott, der Herr. Entschuldigen Sie, dass ich sie anspreche, aber sie haben da einen wunderschönen Wagen. Ein richtiger Oldtimer. Wissen Sie, als ich meinen Führerschein ganz frisch hatte, war so ein grüner Kadett mein allererstes Auto. Mit dem bin ich dann gleich in den Urlaub gefahren.«

»Jaja, der Wagen ist alt, aber noch läuft er. Was wollen Sie?«

»Ich wollte Sie fragen, ob sie ihn mir verkaufen.«

»Der Wagen ist nicht zu verkaufen.«

»Sehr sehr schade. Aber das verstehe ich. Ich hätte nur eine große Bitte. Darf ich mich wenigstens mal hineinsetzen, mit meiner Frau, nur ganz kurz? Bloß wegen der Nostalgie. Ich würde ihr gerne zeigen, wie sich das anfühlt, in einem solchen Schmuckstück zu sitzen.«

»Naja, das passt mir jetzt gar nicht.«

»Ach, kommen Sie, ich gebe Ihnen zehn Schweizer Franken für den kleinen Gefallen.«

»Na gut, aber nur kurz. Ich habe keine Zeit für so einen Blödsinn.«

Bollmäuser sperrte den Wagen auf, Gerald nickte Babs zu und setzte sich ans Lenkrad. Sie ging auf die andere Wagenseite und setzte sich auf den Beifahrersitz.«

»Stark, wirklich stark! Das ist ein Gefühl, als wäre ich 25 Jahre jünger! Wie findest du es, Barbara?«

»Ja, das Auto wirkt sehr geplegt. Und ich mag diesen alten Geruch.«

»Und Sie sind sich sicher, dass Sie den Wagen nicht verkaufen wollen? Was verlangen Sie dafür?«

»Nein, das habe ich Ihnen doch schon gesagt.« Bollmäuser war jetzt genervt von diesen Leuten, die sich in sein Auto gesetzt hatten.

»Meine Frau und ich würden aber sehr gerne noch eine Probefahrt machen, nur ein kleine Runde. Bitte! Wir sind gleich wieder da.«

»Das kommt gar nicht in Frage. Jetzt wieder raus aus meinem Auto, sonst rufe ich die Polizei.«

Gerald und Babs stiegen aus und spazierten wortlos davon.

»Siehst du, Babs, den hätte ich mit meiner Spielzeugpistole locker bearbeiten können, der hätte mir seinen Opel dann mit Kusshand gegeben. Aber wir wollen ja kein Aufsehen und keine Gewalt mehr, gell?«

»Genau, mein Liebster, das wollen wir überhaupt nicht. Aber ich habe eine andere Idee. Schau mal da drüben, den großen Reisebus, mit der Reisegruppe davor. Sollen wir versuchen, ob wir da mitfahren können?«

»Sicher, fragen kostet ja nix.«

Auf dem hellblauen Reisebus stand groß BORN REISEN mit dem Slogan „born to travel“ in altmodischer Pseudo-Pinselschrift. Die Leute, es waren vor allem ältere Damen und Herren, stiegen gerade aus, sie hatten offensichtlich einen Tagesausflug hinter sich gebracht. Als der letzte Passagier herausgekommen war, sprach Babs den Busfahrer an.

»Guten Tag, ich wollte Sie fragen, haben Sie morgen auch noch eine Fahrt?«

»Richtig, die Dame, morgen gehts nach Chamonix-Mont-Blanc.«

»Oh, toll, dorthin wollten mein Freund und ich immer schon. Wir sind in unseren Reiseplänen relativ spontan. Darf ich Sie fragen, ob Sie morgen in Ihrem Bus noch für zwei Leute Platz haben?«

»Kann sein, aber da müssten Sie erst mit meiner Firma Kontakt aufnehmen und buchen. Das läuft nicht über mich, tut mir leid.«

Babs lächelte ihn süß an. »Nur mal angenommen, wir machen es ganz einfach. Ich gebe Ihnen einen Hunderter und sie lassen uns morgen mitfahren — wenn noch zwei Plätze frei sind.«

Der Busfahrer sah sie streng an, aber dann lockte ihn der unerwartete Nebenverdienst. »Können wir machen. Seien Sie morgen um 8 Uhr pünktlich da. Aber das geht natürlich nur, wenn noch Platz ist.«

»Großartig! Vielen Dank, wir werden da sein.«

Gerald und Babs nahmen sich ein Zimmer in einem vergleichsweise günstigen Hotel ganz in der Nähe, dort wo der Reisebus geparkt hatte. Gestern hatten sie noch bei Babs’ Oma in Luzern übernachtet. Es kam ihnen so vor, als wäre das schon viel länger her — es war unheimlich, wie intensiv sich jeder Tag anfühlte, seit sie auf der Flucht waren. Babs dachte, dass sie das in dieser Form nur mit Gerald ertragen konnte. Er gab ihr das Gefühl von Sicherheit, auch wenn es kritisch wurde. Normalerweise war er der liebste Mensch, reagierte aber blitzschnell und knallhart, wenn es darauf ankam — und schien dieses Leben außerhalt der Normalität sogar noch zu genießen. Mit Gerald unterwegs zu sein, besaß eine besondere Qualität, die es vorher in ihrem Leben nicht gegeben hatte.

Sie lagen im Doppelbett und blickten hoch auf die Deckenlampe aus den 60er Jahren, in welcher sich tote Insekten aus vielen Jahren versammelt hatten. Gelbes Funzellicht warf ein Muster auf die Decke.

»Ein Leben auf der Überholspur.« Ihre rechte Hand lag auf seiner linken. Seine war warm, ihre kalt.

»Könnte man so sagen, Babs. Aber ab morgen lassen wir es ruhiger angehen und schwenken auf die rechte Spur. Wir werden schon einen Platz bekommen in dem Reisebus. Hoffen wir, dass uns da keiner erkennen wird.«

»Die Hoffnung stirbt zuletzt, oder?«

»So eine saublöde Sache wie heute im Zug passiert nicht jeden Tag. Ich freue mich jedenfalls darauf, zum ersten Mal den Mont Blanc zu sehen. Das ist doch was Besonderes!«

»Ja, wir sind auch was Besonderes.« Sie schmiegte sich an ihn und er war froh darüber. Sie gab ihm Geborgenheit. Er brauchte das, um dieses neue Leben mit ihr meistern zu können.

Fortsetzung folgt

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Abbildung: Zinkl