Fortsetzung von Blog Nr. 278
4. März, Samstag, 8.00 Uhr.
Oleg und Wladimir Goratschin legten Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Oleg trug einen Man Bun Undercut, so wie der legendäre Viking Ragnar. Wladimir mochte seinen Undercut mit sehr kurzen Seiten und mittellangem Deckhaar plus einem kleinen Quiff. Die Brüder waren beide Bartträger: Oleg, der Ältere, trug den langen halsverdeckenden Vollbart, der um zwei Jahre jüngere Wladimir hatte seinen Vollbart kurzgetrimmt. Iris im Oltener Barbershop machte das perfekt für die beiden. Für die Pflege der Bärte verwendete sie Proraso-Bartöl, für das Kopfhaar David Mallett Styling Cream. Jeden ersten Samstag im Monat um 9 Uhr waren die Goratschinbrüder bei ihr, das war ein Fixtermin. Nur diesmal machten die beiden eine Ausnahme von der Regel. Haarpflege kostete nämlich und sie waren etwas knapp bei Kasse, weil sie sich neue edle Lederstiefel angeschafft hatten. Was muss, das muss.
Oleg und Wladimir beschlossen deshalb, die Kasse wieder etwas aufzufüllen. Wladimir hatte die geniale BORN Reisen-Idee. Die betuchten Alten im Bus etwas erleichtern. Diesen Samstag fuhr der BORN-Bus zum großen weißen Berg. Aber soweit würden die Goratschins gar nicht mitfahren. Nämlich nach ihrer Sammelaktion irgendwo auf der Strecke aussteigen. Der Plan: kurz bevor der Bus losfuhr und sich die Tür beim Fahrer schließen würde, sehr schnell maskiert hineinspringen. Wladimir würde den Busfahrer mit seiner BUL Cherokee anweisen, ganz normal loszufahren. Oleg würde die Passagiere in aller Ruhe mit einer Jutetasche abklappern, auf dass sie großzügig spenden sollten. Er verwendete zur Unterstützung seines Anliegens eine ISSC M22 Raptor. Die beiden hatten sich Fasnachtsmasken besorgt: Oleg gab den Joker, den er absolut geil fand, Wladimir das Schwein. Ein Schweinegesicht wirkte sehr furchterregend auf die Leute, davon war Wladimir überzeugt.
Um Viertel vor 8 Uhr am Morgen versammelten sich die Gäste der BORN-Reisegesellschaft für die Fahrt nach Chamonix-Mont-Blanc vor dem großen blauen Bus. Heinz Mergener, der Fahrer, verstaute das Gepäck, danach ließ er die Passagiere langsam einsteigen. Er überprüfte am Eingang die Tickets, eine Ausnahme gab es nur für die hübsche Frau, welche Heinz heimlich den vereinbarten Hunderter zusteckte und zu der er sagte: „Ganz nach hinten bitte, die Dame, die beiden mittleren Plätze für Sie und Ihren Freund.«
Nach zehn Minuten hatten die Reisegäste ihre Sitze eingenommen und ihre Handtaschen und Rucksäcke bei sich verstaut. Es wurde ruhiger im Bus und nur die Leute nahe am Cockpit bekamen voller Entsetzen mit, dass zwei scheußlich maskierte Männer mit Pistolen als letzte Passagiere hereingekommen waren.
Oleg richtete seine Waffe auf Heinz und sagte mit osteuropäischem Akzent: »Nur keine Panik, Mister Busfahrer. Es läuft alles ganz gesittet ab. Sie fahren jetzt ganz normal und langsam los, ihr Reiseziel ändert sich nicht. Wenn sie parieren, passiert keinem etwas.«
Wladimir machte zu den Gästen, die die beiden Maskierten bereits gesehen hatten, die Geste mit dem linken Zeigefinger vor dem Mund und zeigte ihnen mit der rechten Hand die Pistole. Die überwiegend älteren Herrschaften verhielten sich daraufhin mucksmäuschenstill. Danach kam Olegs Ansage übers Mikrophon.
»Sehr geehrte Damen und Herren, eine kleine Durchsage, bitte passen Sie jetzt sehr genau auf. Wir fahren wie geplant zum Mont Blanc, aber es gibt eine kleine Aufstockung ihrer Transportkosten. Es wird nun gleich ein Herr mit einer Schweinemaske durch den Gang spazieren. Haben Sie keine Angst vor ihm, er ist friedlich, wenn Sie seinen Forderungen Folge leisten. Aber nur dann. Sollten Sie sich aber weigern, kann das Schweinchen sehr sehr böse werden.«
Im gesamten Bus begann nun ein leises Raunen und Flüstern. Oleg schrie ins Mikrophon: »Und alle halten jetzt gefälligst die Schnauze. Wir dulden hier keine Unruhe. Wer sich auffällig verhält, bekommt eine Kugel ins Bein. Haben das alle kapiert?« Es wurde sofort so ruhig, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
Oleg: »Ich übergebe jetzt das Mikro an den Fahrer.«
»Guten Tag, hier spricht Heinz Mergener, ihr Fahrer nach Chamonix-Mont-Blanc. Ich bitte Sie, liebe Reisegäste, befolgen Sie die Anweisungen der beiden Herren. Man hat mir versichert, dass keinem etwas geschieht.«
Dann wieder Oleg: »Okay, gut! Schreiten wir zur Tat. Holen Sie jetzt schon mal ihre Brieftaschen, Portemonnaies und Schmuckgegenstände hervor, Mister Pig wird diese nun einsammeln. Wer etwas zurückbehält, dem wird es schlecht ergehen.«
Das Entsetzen bei den Leuten war groß, als Ihnen klar wurde, dass sie wahrscheinlich an ihrem Ziel völlig mittellos ankommen würden. Kein Geld mehr für Verpflegung und Einkäufe. Gott sei Dank waren die Übernachtungskosten für das Hotel schon im Vorfeld von der Firma BORN abgebucht worden. Nur die wenigstens trauten sich nun, heimlich aus ihren Brieftaschen Scheckkarten, Krankenkassenkarten und sonstige wichtige Dokumente herauszuholen und bei sich zu verstecken.
Wladimir klapperte Sitz für Sitz ab und ließ die Wertsachen in die Tasche geben. Bei manchen Leuten musste er etwas grob werden. »Was ist mit der Uhr? Los hinein! Aber dalli.« Oder: »Sie haben nicht MEHR dabei, wollen Sie mich verarschen?« Gejammere oder Flehen ignorierte Wladimir. Wer sich eine solche Busreise leisten konnte, war nicht arm. Zwischendurch lobte Wladimir auch: »Sehr schön, Sie verhalten sich vorbildlich, das gefällt Mister Pig. Wir sind bald durch, dann haben Sie wieder ihren Frieden.«
Schließlich kam Wladimir ganz hinten an, dort saß nur ein Pärchen. Sie sah ziemlich scharf aus, er war dünn und blass und wirkte ängstlich.
»Na, Süße, du hast bestimmt auch was zu geben für das freundliche Schweinchen. Zumindest hoffe ich das doch.« Wladimir schwenkte seine Waffe. »Und du auch, Bleichgesicht. Los, hopphopp. Ihr seid die letzten, dann sind wir durch.«
Gerald und Babs gaben wortlos ihre Portemonnaies in die große Jutetasche, welche schon ziemlich voll war. Fette Beute für die Räuber, so schien es. Als sich Wladimir arglos umdrehte, um mit seiner Tasche den Gang zurückzugehen, sprang Gerald hoch und gab ihm mit aller Kraft einen Schubs. Wladimir stieß sich den Kopf hart an einer Lehne und knallte auf den Boden. Seine Waffe schlitterte einen Meter vor ihm nach vorne. Gerald sprang auf seinen Rücken, packte Wladmirs Schweinemaskenschädel mit beiden Händen und stieß diesen dreimal kräftig auf den PVC-Boden.
Oleg, welcher vorne am Cockpit stand, um auf den Busfahrer zu achten, hörte etwas, drehte sich um und sah, dass sein Bruder am Ende des Gangs auf dem Boden lag. Auf ihm hockte ein Typ, der auf Wladimir einschlug. Oleg sprintete mit vorgehaltener Waffe nach hinten und rief: »Lass ihn sofort los, ich knalle dich sonst ab!«
Gerald machte einen Satz über Wladimir, um nach der Pistole vor ihm zu greifen. Oleg schoss im gleichen Moment — und hätte Gerald auch voll getroffen, wenn kurz davor ein beherzter älterer Herr nicht sein Bein herausgestreckt hätte, welches Oleg stolpern ließ. Die Kugel verfehlte Gerald um Haaresbreite, ging auch an Babs knapp vorbei und durchschlug das hintere Busfenster. Oleg kam hart auf dem Boden auf und ließ dabei seine Waffe fallen. Bevor er wieder nach ihr greifen konnte, hatte ihn Gerald mit Wladimirs Waffe bereits erreicht und schoss ihm ins rechte Knie. Oleg kippte mit einem Schrei zur Seite, die Hose färbte sich blutig. Gerald nahm nun auch Olegs Waffe an sich. In diesem Moment wollte sich Wladimir aufrappeln, um seinem Bruder zu Hilfe zu kommen. Babs sprang von hinten auf ihn drauf und schlang ihren rechten Arm um seinen Hals. Gerald drehte sich um, ging zu Wladimir und schoss ihm durch die linke Hand. Dieser heulte auf, Gerald drückte ihm den Waffenlauf ans Schweinemaul. »Du bleibst jetzt ruhig, sonst schieße ich dir auch noch in den Kopf!«
Der ältere Herr, welcher Oleg ein Bein gestellt hatte, hatte sich währenddessen auf diesen geworfen, um ihn daran zu hindern, wieder hochzukommen. Was gar nicht mehr nötig gewesen wäre, denn Oleg kümmerte nur noch sein kaputtes Knie, »Ich verblute!« heulend.
Heinz hatte das Spektakel im Rückspiegel mitbekommen, parkte den Bus am Straßenrand und ging nach hinten. Die hübsche Frau hockte auf dem schockstarren Mister Pig, dessen linke Hand blutgetränkt war. Ein älterer Herr drückte auf Mister Joker, welcher nach Verbandszeug jammerte — der Freund der Hübschen stand dazwischen und hatte die Waffen auf die Gangster gerichtet.
Heinz war beeindruckt: »Sie haben die beiden unschädlich gemacht! Das war verdammt riskant, aber trotzdem: Respekt!« Und laut rief er zu seinen Fahrgästen: »Die Gefahr ist vorbei, die Räuber sind unschädlich gemacht worden.« Daraufhin gab es ordentlich Applaus, Gerald musste grinsen. Babs sah ihn schockiert an, er war tatsächlich Actionman Liam Neeson. Unfassbar!
Gerald zu Heinz: »Haben Sie ein Seil im Bus, um die beiden zu fesseln? Und vielleicht Sanitätszeug, um ihre Blutungen zu stoppen? Die Polizei können Sie ja danach rufen. Erstmal hier klar Schiff machen.«
»Ja natürlich, hole ich sofort!« Heinz eilte davon, um die Sachen zu bringen. Der Mann hatte recht, die Polizei war jetzt nicht das Dringlichste. Eher noch ein Krankenwagen. Aber Joker und Pig sollten ruhig ein wenig leiden, bis sie versorgt werden würden.
Gerald leise zu Babs: »Das war es jetzt mit unserer gemütlichen Reise zum Mont Blanc. Verdammt nocheinmal, was haben wir aber auch für ein Pech. Und die Polizei können wir jetzt gar nicht gebrauchen, die nimmt unter Garantie vor allem meine Personalien auf. Wir müssen schon wieder weg, mein Schatz.« Sie nickte. »Ja, leider.«
Heinz kam mit einem großen Sanitätskoffer und einem langen Seil zurück. Es meldete sich eine Dame, sie sei Ärztin im Ruhestand, könne sich aber um die Wunden der Räuber kümmern. Sie nahm Verbandszeug aus dem Koffer und machte sich sofort professionell ans Werk — die beiden Brüder ließen es dankbar mit sich geschehen.
Gerald zu Heinz: »Ich behalte beide Waffen erstmal, sicherheitshalber, falls einer von den beiden wieder aktiv werden will.«
Und Heinz zu Gerald: »Gute Idee, Herr …«
»Wischnewski, Robert Wischnewski.«
Es gab eine große Aufregung im Bus, als Gerald und Heinz die zwei Verwundeten hinausbrachten. Heinz ging voraus, Oleg und Wladimir schlurften mit schmerzverzerrten Gesichtern unter ihren Masken hinterher, wobei es Oleg wegen seinem kaputten Knie besonders schwer hatte. Gerald hielt sie von hinten mit der Waffe in Schach. »Ganz langsam, die Herren Pig und Joker. Ich habe euch im Visier.«
Der ältere Herr, welcher Oleg das Bein gestellt hatte, fühlte sich zurecht mitverantwortlich für die Eliminierung der Räuber und als Held. Er war es auch, der das Diebesgut aus der Jutatasche voller Stolz an die dankbaren Besitzer zurückgeben würde. Seinen Enkeln wollte er daheim ausführlich erzählen, wie das gewesen war, im Reisebus zum Mont Blanc.
Babs kam mit Geralds Rucksack und ihrer Reisetasche hinaus an den Straßenrand, wo die beiden Verwundeten lagen. Heinz hatte ihnen die Masken abgenommen. Des Gesicht von Wladimir sah schlimm aus. Blutig, wahrscheinlich gebrochene Nase und Beulen nicht zu knapp.
Die Ärztin im Ruhestand sah Gerald vorwurfsvoll an. »War das denn unbedingt nötig, ihnen ins Knie und in die Hand zu schießen?«
»Ja. Ich wollte es keinesfalls riskieren, dass sie aufstehen und Unheil unter den Fahrgästen anrichten können. Am liebsten hätte ich ihnen in den Kopf geschossen.«
Sie sah ihn entsetzt an und schüttelte stumm den Kopf.
Inzwischen waren die meisten Passagiere ebenfalls ins Freie gekommen, um Luft zu schnappen und sich natürlich auch die beiden Gangster genauer anzuschauen. So etwas gab es ja nicht jeden Tag. Die Gesellschaft war bei bester Laune, es gab viel zu besprechen. Und es fiel auch gar nicht auf, dass sich Gerald und Babs von der Gruppe entfernten und zügig die Landstraße in südlicher Richtung liefen. Der Himmel war grau, aber es regnete nicht.
Fortsetzung folgt
Abbildung: Zinkl