Fortsetzung von Blog Nr. 279
4. März, Samstag, 9.00 Uhr.
Gerald hatte mit seiner jüngsten Aktion eine Leuchtrakete der Aufmerksamkeit gezündet. Er und seine attraktive Begleiterin waren von ein paar Fahrgästen unbemerkt fotografiert worden. Nun sollte es für die Schweizer Polizei keine besonders große Herausforderung mehr sein, die Fotos von Neumann an der Tankstelle in Frick mit denen auf den Smartphones in Übereinstimmung zu bringen. Außerdem wusste die Polizei jetzt, dass Gerald zwei Schusswaffen mit sich führte, welche er den beiden Räubern abgenommen hatte. Und was die Schweizer Polizei wusste, das wussten ziemlich schnell auch Bronzo und Kuroczyk. Obendrein würde die ganze Sache für die Schweizer Boulevardpresse natürlich ein gefundenes Fressen sein: Der Täter der spektakulären „Benzindusche“ war identisch mit dem tapferen Helden im Reisebus! Es wurde langsam richtig eng für Gerald und Babs, unentdeckt bleiben zu können.
»Jetzt ist es auch schon egal, ob ich meine Oma anrufe. Die haben uns sowieso bald, Gerald. Ich möchte ihr nur Bescheid geben, was passiert ist.«
»Okay, Babs, ruf sie an. Aber mach ihr bitte keine Angst, wir kriegen das hin, du wirst schon sehen.«
Bei Frau Raubinger ging der Anrufbeantworter an.
»Hallo Oma, ich bins, Babsi. Du wirst es vermutlich in ein oder zwei Tagen selbst aus der Zeitung erfahren, was passiert ist. Trotzdem möchte ich dir sagen, dass es uns gut geht. Wir waren in einem Reisebus unterwegs zum Mont Blanc, aber saublöderweise waren da auch zwei Männer, die die Fahrgäste berauben wollten. Du wirst es nicht glauben, aber Gerald hat beide unschädlich gemacht! Das weiß jetzt aber natürlich die Polizei und die Presse, alle wissen es. Wir sind am Überlegen, wohin wir jetzt noch können. Wir versuchen uns nun erstmal per Anhalter durchzuschlagen, südwärts. Ich melde mich wieder, sobald ich kann. Notfalls schicke ich dir eine Postkarte. Bussi, ich hab dich lieb.«
»Gute Idee, Babs! Lass uns versuchen, per Anhalter mitgenommen zu werden! Südwärts weht der Wind!«
»Wo nimmst du nur deine gute Laune her, Gerald? Ich habe langsam das Gefühl, du genießt den Nervenkitzel und die Gangsteraction.«
»Naja, ich gebe es zu. Schon, irgendwie. Aber ich bin nicht scharf darauf, im Knast zu landen. Noch sind wir frei! Und Gott sei Dank unverletzt. Komm, wir müssen von der Straße runter. Sehr bald wird hier die Polizei nach uns suchen.
»Schau, da vorne ist ein Migros-Discounter. Lass uns bitte hingehen, ich habe plötzlich Heißhunger auf Kartoffelchips und Kirschjoghurt.«
»Super Idee, mein Schatz! Und ich brauche Schokolade.«
Marianne Raubinger hatte die Nachricht ihrer Enkeltochter abgehört und machte sich natürlich größte Sorgen. Konnte sie hier seelenruhig zu Hause herumsitzen, während ihre Babsi in Not war? Nein, das konnte sie nicht. Die Schauspielerei für die Polizistin war ja schön und gut gewesen, aber nun war mehr zu tun, als debil zu wirken. Sie rief Alfred an.
»Ja, Marianne, schön, dass du dich endlich mal wieder meldest! Ein seltenes Vergnügen, deine wohlklingende Stimme zu hören. Wollen wir essen gehen?«
»Du alter Schmeichler! Wohlklingende Stimme, dass ich nicht lache.«
»Dochdoch, Marianne! Also, was steht an, außer dass du dir ein paar Komplimente abholen willst?«
»Sag mal, Alfred, hast du eigentlich noch deinen alten Pössl?«
»Klar, steht vor der Garage und langweilt sich. Ich habe seit Beates Ableben keine Lust mehr, alleine damit auf Reisen zu gehen. Der Pössl redet nicht mit mir, leider. Aber ich konnte mich auch noch nicht dazu überwinden, ihn zu verkaufen.«
»Alfred, hast du Lust auf eine kleine Spritztour zum Mont Blanc? Ich war da vor einer Ewigkeit zum letzten Mal. Würde den großen weißen Berg gerne wieder sehen.«
»Marianne! Du überrascht mich. Reiselust, das kenne ich von dir ja gar nicht. Ich glaube aber, du hast doch was ganz Bestimmtes vor, oder? Ich glaube nämlich nicht, dass dich der Mont Blanc so sehr interessiert.«
»Ach Alfred, du bist mein Schweizer Hercule! Und du hast recht. Es ist bloß so kompliziert, dass ich es dir nicht am Telefon erklären kann.«
»Wann willst du denn nach Chamonix fahren?«
»Jetzt sofort, Alfred. Jetzt gleich.«
»WAS? Ist heute etwa schon der 1. April?«
»Hast du Zeit und Lust, Alfred? Wir müssen aber den Pössl nehmen, das ist wichtig.«
»Marianne! Du wirst lachen, aber ich habe Zeit UND Lust. Mir ist saulangweilig. Ich packe meinen Koffer und bin in einer Stunde bei dir. Ist das zu schnell für dich?«
»Das ist perfekt, Alfred. Danke, du hast sehr viel gut bei mir, dass du das für mich machst.«
»Ach, ich mache es ja auch für mich, Marianne. Bis gleich!«
Marianne schickte Babsi eine whatsapp: „Wir treffen uns in Chamonix-Mont-Blanc. Bitte erstmal keinen Rückruf, ich melde mich wieder, deine Oma.“
Mariannes geliebter Gatte Oskar war vor 23 Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Das war für Marianne ein sehr schwerer Schlag gewesen, sie hatte jahrelang nicht über diesen Verlust hinwegkommen können. Alfred war Oskars bester Freund gewesen, auch ihn hatte diese Sache sehr getroffen. Er hatte Marianne in ihrer Trauer und Einsamkeit beigestanden und hätte sich irgendwann gerne an ihrer Seite gesehen. Er fand Marianne toll — aber sie hielt ihn auf Abstand. Ab und zu zusammen ein Essen, um über die guten alten Zeiten zu reden, aber mehr hatte Marianne nicht zugelassen. Egal, Alfred hatte sich damit abgefunden, dass er ihre große Liebe niemals würde ersetzen können. Er freute sich, wenn Sie sich bei ihm meldete und hatte ansonsten keinerlei Erwartungen mehr. Gelassenheit war ein hohes Gut, welches er schätzen gelernt hatte. Aber er war zu viel alleine und auch deshalb nahm er dieses sehr spontane Angebot eines gemeinsamen Kurztrips dankbar an. Sein bescheidenes Wohnmobil, der „alte Pössl“, war gut in Schuss, darauf hatte Alfred immer geachtet, auch wenn er schon ziemlich lange keine Reise mehr mit ihm unternommen hatte.
Um 11 Uhr vormittags starteten die beiden Senioren von Mariannes Anwesen. 280 Kilometer waren es bis zum großen weißen Berg, also sollten sie mit Pausen irgendwann am späten Nachmittag in Chamonix-Mont-Blanc ankommen. Alfred war ein langsamer und sehr umsichtiger Fahrer — Marianne spürte, wie er es genoss, sie zu kutschieren. Sie erzählte ihm während der Fahrt über Babsi und ihren Freund Gerald und über die spezielle Situation der beiden. Alfred fand das alles sehr interessant.
»Nun, liebe Marianne, du willst das frischgebackene Gangsterpärchen also in den Pössl aufnehmen und sie damit vor der Polizei verstecken, verstehe ich das richtig?«
»So ungefähr, Alfred. Das ist das einzige, was mir eingefallen ist, was ich für die beiden, vor allem ja für Babsi, tun kann.«
»Dir ist aber schon klar, dass wir uns damit eines Verbrechens schuldig machen, wenn wir polizeilich gesuchten Leuten ein Versteck bieten.«
»Das ist mir völlig klar, Alfred und eigentlich kann ich das von dir nicht verlangen.«
»Na schön, jetzt stecke ich aber schon mittendrin. Und ehrlich gesagt: Wenn du es mir vorher am Telefon mitgeteilt hättest, hätte ich trotzdem zugesagt. Ich kenne deine Enkeltochter ja auch gut und habe sie immer gemocht. Außerdem: Mit 77 noch ein solches Abenteuer zu erleben, das ist ein Geschenk. Ich wäre schön blöd, wenn ich stattdessen daheim vor der Glotze hocken würde, um mir langweilige Komödien anzuschauen. Also: Alles gut, wir ziehen das durch. Aber weiß deine Enkelin denn schon Bescheid, was wir ihr und ihrem Gerald anbieten?
»Noch nicht, Alfred. Ich habe ihr eine SMS geschrieben, dass wir uns in Chamonix treffen sollten, Details bespreche ich noch mit ihr.«
»Zu viert können wir im Pössl aber nicht übernachten, das weißt du, gell?«
»Klar, Alfred, wir nehmen uns das beste Hotel in der Stadt und die Turteltäubchen dürfen im Wohnmobil nächtigen. Wäre dir das recht, mit mir eine Suite zu teilen?«
Alfred sagte nichts, aber er lächelte Marianne an. Das war Antwort genug, wie er fand.
Fortsetzung folgt
Abbildung: Zinkl